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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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Abend nicht mehr mit der Uhr zu ihr. Da wusste Amalia, auch wenn es ihr niemand sagte, dass sie nie wieder würde hören können.
    29
     
    D oktor Stevenson war einer reinen Eingebung gefolgt, als er nach einem Patientenbesuch in Tavistock beschloss, noch einen Abstecher nach Sherwood zu machen. Es war fast acht Monate her, dass er dort gewesen war. Die Eltern des Mädchens hatten ihn damals kommen lassen, weil die Kleine nach einer schweren Scharlacherkrankung taub geworden war. Noch bevor er das Mädchen untersucht hatte, war ihm klar, dass wenig Hoffnung bestand, und er konnte den Sherwoods daher leider auch nichts anderes sagen, als die Ärzte im Krankenhaus es schon zuvor getan hatten. Trotzdem wollten sie ihm nicht glauben. Sie verabschiedeten ihn wie irgendeinen Quacksalber. Er hatte es ihnen nicht übel genommen. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass es Zeit brauchte, eine solche Diagnose zu akzeptieren.
    Der Fall des Mädchens hatte ihn in eigentümlicher Weise berührt. Die Kleine war sechs Jahre alt, sehr zart und hübsch, aber es war vor allem ihr waches und intelligentes Wesen, das ihm in Erinnerung geblieben war. Ein ungewöhnlich erwachsener Ernst hatte in ihren Augen gelegen, als er sie auf den Tisch setzte und erklärte, was er bei der Untersuchung tun würde. Mit einem intensiven Blick hatte sie ihn angeschaut, prüfend und konzentriert bemüht, die Worte von seinen Lippen zu verstehen, und hatte alles geduldig über sich ergehen lassen, bis sie zum Ende hin plötzlich etwas sagte – nur einen Satz: »Ich höre nichts …« Es war eine Frage und Feststellung zugleich, und er begriff, dass sie im Gegensatz zu ihren Eltern das Unabänderliche bereits wusste. Er hatte ihr die Hände auf die schmalen Schultern gelegt und genickt. » Ja, du hörst nichts!«
    Die Art, wie sie daraufhin den Kopf abwandte, die kleinen Hände in ihrem Schoß, und nach draußen starrte, hatte ihn einen Augenblick lang mit Gott hadern lassen, dass er dem Mädchen dieses Schicksal nicht ersparte.
    Er war Arzt und auf das menschliche Gehör spezialisiert. Im Laufe der Jahre hatte er bei einigen Patienten – Kindern, aber auch Erwachsenen – miterleben müssen, wie sie durch Krankheit das Gehör verloren, und es hatte unzweifelhaft immer etwas Tragisches. Dennoch, in ihrem Fall war es ihm besonders grausam erschienen – vielleicht, weil man trotz ihres kindlichen Alters schon spürte, was verborgen in ihr lag. Man erahnte die ätherische Schönheit, die noch hinter den kindlichen Zügen schlummerte, und fühlte die Tiefe ihres Wesens. Das Leben hätte etwas Außergewöhnliches mit ihr vorhaben sollen, hatte er gedacht.
    Er nahm an, dass nach den Monaten, die inzwischen vergangen waren, auch die Eltern des Mädchens begriffen hatten, dass ihre Tochter taub bleiben würde. Deshalb hatte er das Gefühl, sie noch einmal aufsuchen zu müssen.
    Vor ihm hatte sich die große Eingangstür des eleganten Herrenhauses geöffnet.
    »Sir?« Ein Butler stand fragend auf der Schwelle.
    »Mein Name ist Stevenson. Doktor Stevenson«, erklärte er, da er sich nicht sicher war, ob der Mann ihn wiedererkannte. Er fragte, ob Mrs oder Mr Sherwood zugegen seien, und reichte ihm seine Karte. Der Butler verschwand und kehrte kurz darauf zurück, um ihm in der unnachahmlichen Förmlichkeit seines Berufsstandes mitzuteilen, dass man ihn im Salon empfangen würde.
    Mrs Sherwood wirkte überrascht, aber auch ein wenig verunsichert, ihn zu sehen. Sie trug ein elegantes Kleid, und wie bei seinem ersten Besuch fiel ihm auf, dass etwas in ihrer Haltung nicht dazu passte.
    »Doktor Stevenson? Sind Sie gekommen, um sich zu vergewissern, dass Ihre Diagnose gestimmt hat? Oder was führt Sie nach Sherwood?« Der bittere Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
    »Wie geht es Ihrer Tochter?«, fragte er sanft.
    »Wie soll es ihr schon gehen? Sie ist taub …«, erwiderte sie kühl.
    »Sie lebt, Mrs Sherwood. Es hätte leicht anders kommen können bei dem schweren Krankheitsverlauf. Das sollten Sie nicht vergessen!«
    »Und manchmal weiß ich nicht, ob sie damit nicht besser dran gewesen wäre! Was für ein Leben ist das schon, das sie jetzt noch erwartet?«, stieß sie mit unerwarteter Heftigkeit hervor. Ihre Kinnlinie hatte sich verhärtet, und Doktor Stevenson sah, dass sie die Finger in ihren dünnen Spitzenhandschuhen geballt hatte. Er konnte ihr ihre Äußerung – so grausam sie klang – nicht einmal übel nehmen, denn sie stimmte. Die

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