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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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auf das Papier und ihre Malsachen, die auf dem Tisch lagen, und ließ die Hände mit lebhaftem Ausdruck erneut durch die Luft fliegen. Ich wollte malen, aber dann habe ich den Regen beobachtet …
    Den Regen beobachtet? Cathleen schaute sie belustigt an.
    Amalia nickte. Ihre Schwester trat neben sie und schaute nach draußen, aber sie schien nicht ganz zu begreifen, was man an dem schlechten Wetter so faszinierend finden konnte. Ihre Finger spielten gedankenverloren miteinander. Sie wirkte nachdenklich, beinahe als hätte sie ein schlechtes Gewissen, bemerkte Amalia und spürte plötzlich, dass irgendetwas nicht stimmte. In den letzten Monaten hatte sie zunehmend gelernt, in der Haltung und den Gesichtern der Menschen zu lesen. Da sie nicht mehr verstehen konnte, was sie sagten, nahm sie jede Regung und kleinste Veränderung in ihrer Mimik oder Gestik in einer Weise wahr, wie sie es früher nie getan hatte. Ein leichtes Runzeln der Stirn, die Art, wie jemand beim Essen die Gabel umklammerte, den Kopf senkte und sich auf die Unterlippe biss oder verloren aus dem Fenster starrte, verrieten ihr etwas darüber, was in den Menschen vorging. Manchmal schien es ihr, als würde jeder von ihnen ein zweites Ich mit sich herumtragen – eines, das die wahren Gefühle und Gedanken enthüllte, das durch die Sprache überdeckt wurde.
    Was ist?
    Cathleen wirkte wie ertappt. Nichts.
    Amalia schaute sie an. Von allen Menschen konnte ihre Schwester am wenigsten verbergen, was in ihr vorging. Ihr Gesicht gab wie ein Spiegel jede Empfindung wieder, und selbst als Amalia noch hören konnte, hatte sie immer sofort gespürt, wenn etwas mit ihr war.
    Sie griff Cathleen am Arm. Das stimmt nicht!
    Ihre Schwester wollte abwehrend die Hände heben, doch dann ließ sie sie wieder sinken. Nichts Schlimmes. Ich habe gehört, wie Mum mit Miss Carrington gesprochen hat … Du bekommst einen Lehrer .
    Amalia schaute sie verwirrt an, und Cathleen musste die Zeichen wiederholen, bevor sie verstand, was sie meinte.
    Einen Lehrer? Aber ich habe doch Miss Carrington!
    Cathleen wich ihrem Blick aus, bevor sie auf ihren Mund deutete. Damit du das Sprechen nicht verlernst.
    Den letzten Satz las Amalia von ihren Lippen. Sie erstarrte und verspürte instinktiv Widerwillen. Jemand sollte sie im Sprechen unterrichten, als wäre sie ein Kleinkind?
    Doch eigentlich überraschte sie die Nachricht nicht sonderlich. Ihre Mutter hatte in den letzten Wochen immer öfter einen ungeduldigen Blick bekommen, wenn sie etwas sagte. Amalia, die ohnehin zunehmend weniger sprach, war aufgefallen, dass ihre Mutter es dabei vermied, sie anzuschauen.
    Und dann hatte es den Vorfall am Gasthof gegeben. Sie presste unwillkürlich die Lippen zusammen, als sie sich daran erinnerte. Letzte Woche, als das Wetter so schön gewesen war, hatten sie mit ihren Eltern einen Ausflug ins Moor gemacht. Zu Bowerman’s Nose. Später waren sie in einem Landgasthof eingekehrt. Cathleen und sie hatten hinten auf dem Hof Ball gespielt, als plötzlich einige andere Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, aufgetaucht waren. Sie waren ungefähr in ihrem Alter gewesen. Einer der Jungen hatte Amalia etwas gefragt. Er sprach zu schnell, als dass sie seine Worte hätte von den Lippen lesen können. Hilflos hatte sie ihn angestarrt und ihm zu sagen versucht, dass sie ihn nicht verstehen könne. Irgendetwas an ihrer Aussprache musste dabei seltsam gewesen sein, denn er starrte sie an, zog eine Grimasse und sprach zu seinen Geschwistern, die daraufhin zu lachen begannen. Dann riefen sie alle etwas im Chor. Auch wenn Amalia die Worte nicht verstehen konnte, begriff sie, dass man sie nachäffte. Schließlich hatte sich Cathleen aufgebracht auf den Jungen gestürzt, doch er war ihr geschickt ausgewichen, ein Stück weggerannt und hatte hämisch etwas gesagt, das ihre Schwester knallrot vor Wut werden ließ. Sie schrie ihn an – aber das stachelte ihn und seine Geschwister nur noch mehr an. Während sie vor Cathleen fortrannten, als wollten sie mit ihr Fangen spielen, wiederholten sie wieder und wieder mit hämischem Gesichtsausdruck dieselben Worte – wie den Refrain eines Liedes. Ihre Lippen bewegten sich auf immer gleiche Weise, sodass sogar Amalia am Ende verstand, was sie riefen. »Deine Schwester ist blöde, blöde …«
    Selten hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Doch fast noch schlimmer war es, die Wut ihrer Schwester mit anzusehen, die sich mit einem der Jungen fast geprügelt hätte, wenn der Gastwirt

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