Die Schwestern von Sherwood: Roman
Cathleen befand sich noch im Unterricht bei Miss Carrington. Zu den vielen Veränderungen, die ihre Taubheit mit sich brachte, gehörte auch, dass sie nur noch am Vormittag gemeinsam unterrichtet wurden. Es war für Amalia schwer geworden, den Stunden zu folgen. Das Lippenlesen war anstrengend, und wenn sie ein oder zwei Sätze nicht richtig verstand, verlor sie schnell den Faden. Miss Carrington war geduldig und wiederholte oft alles noch einmal. Wörter, die sie noch nie gehört hatte, versuchte ihr die Gouvernante mit Bildern zu erklären, und sie hatte ihr sogar eine Tafel mit einem Fingeralphabet mitgebracht, doch Amalia war nach dem Unterricht fast immer müde und erschöpft. Sie hatte das Gefühl, die doppelte Anstrengung aufbringen zu müssen, um die Hälfte von früher zu verstehen.
Ihr warmer Atem hatte die Scheibe etwas beschlagen, doch sie starrte fasziniert nach draußen. Ein heftiger Regen prasselte gegen das Fenster – schon seit Stunden. Seit Tagen hielt sich ein Unwetter über dem Moor. In Sturzbächen lief das Wasser von den Blättern, den Ästen und Stämmen der Bäume und sammelte sich unten auf der Erde zu großen Pfützen. Landschaften aus kleinen Seen waren daraus entstanden, die sich quer durch den Garten zogen. Vereinzelt trieb das eine oder andere rote oder violette Blütenblatt auf der Oberfläche. Zwei Vögel hatten in den Baumkronen der alten Eichen Schutz vor der Nässe gesucht. Amalia verspürte unwillkürlich Mitleid mit ihnen, als sie sah, wie sie mit eingezogenen Köpfen und triefendem Gefieder oben auf den Ästen saßen.
Sie stützte das Kinn in die Hände und starrte durch die dichten Regenfäden, deren Grau sich kaum von dem wolkenverhangenen Himmel abhob. Ihr Blick blieb an den Tropfen hängen, die vor ihr die Scheibe hinunterrannen, einer nach dem anderen, so schnell, dass sie dabei die Form veränderten, beinahe als würden sie sich häuten, bevor sie sich zu einem dünnen Rinnsal trafen. Sie sah anders als früher, stellte sie nicht zum ersten Mal fest. Die Farben schienen ihr leuchtender und kräftiger, die Formen klarer, und es gab so viele Details und Kleinigkeiten, die sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Manchmal, in den guten Momenten, in denen sie nicht darüber nachdachte, woran sie ihre Taubheit alles hinderte, spürte sie sehr wohl, dass sie etwas anderes dafür geschenkt bekommen hatte. Eine neue Art zu sehen und zu fühlen, die aufregend war, als hätte sie das Ufer eines neuen Landes betreten, das es zu erkunden galt.
31
E s war jetzt über ein Jahr her, dass sie krank geworden war. Nur noch vage erinnerte sich Amalia an die Zeit im Krankenhaus, dafür umso besser an die Monate danach. Vor zwei Wochen war einer der Ärzte, der sie kurz nach ihrer Rückkehr zu Hause untersucht hatte, noch einmal hier gewesen. Er war einer von den netten und freundlichen Doktoren gewesen – Amalia konnte sich noch gut an ihn erinnern. Dieses Mal war er jedoch nicht gekommen, um sie zu untersuchen, sondern hatte nur mit ihrer Mutter gesprochen. Amalia hatte ihn durchs Fenster beobachtet, als er wieder in seine Kutsche gestiegen war. Er hatte ihr kurz zugewunken, bevor er wegfuhr. Sie zog die Stirn über ihrer zarten Nase kraus und strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht, während sie sich fragte, warum er wohl hierhergekommen war.
Eine leichte Schwingung, die sie unter ihren Füßen wahrnahm, riss sie in diesem Moment aus ihren Gedanken. Schritte kamen vom Flur ins Kinderzimmer. Nicht so schwere wie die von ihrer Mutter oder Miss Carrington, sondern leichter. Es war Cathleen. Hier oben im ersten Stock, wo die Böden aus Holz bestanden, konnte Amalia spüren, wenn jemand kam. Oft sogar, wer es war. Unten im Erdgeschoss, mit dem Untergrund aus Stein, war das leider nicht möglich. Sie drehte sich herum, als ihre Schwester im selben Augenblick hinter ihr auf der Schwelle auftauchte.
Verblüfft starrte Cathleen sie an. Hast du mich gehört?
Amalia schüttelte lächelnd den Kopf. Sie deutete zum Boden. Gefühlt! Sie ließ ihre Hände durch die Luft gleiten. Bist du fertig bei Miss Carrington?
Ihre Schwester nickte. Sie verzog das Gesicht und machte ein paar Zeichen, die keinen Zweifel ließen, wie froh sie war, die Geschichtsstunde hinter sich zu haben.
Amalia grinste. Es war kein Geheimnis, dass Cathleen sich nicht sonderlich für dieses Fach interessierte, weil sie es hasste, Daten auswendig zu lernen.
Und du? Cathleen hatte fragend die Brauen gehoben.
Amalia wies
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