Die Schwestern von Sherwood: Roman
Taubheit war eine schwere Einschränkung, und die Menschen, die darunter litten, wurden oft behandelt, als wären sie dumm oder sogar schwachsinnig. Natürlich gab es die eine oder andere Ausnahme – Frauen und Männer ohne Gehör, denen es gelungen war, in der Gesellschaft akzeptiert und geachtet zu leben, doch diese Fälle waren eher selten. Die Mehrzahl der Tauben lebte ein anderes Leben.
Aber Amalia Sherwood hatte zumindest eine Familie mit Geld, dachte er. Andererseits war offensichtlich, dass die Sherwoods Emporkömmlinge waren. Kein Butler und kein Herrensitz konnten darüber hinwegtäuschen, dass sie getrieben waren von gesellschaftlichem Ehrgeiz und dem Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz – und für Mrs Sherwood war die Taubheit ihrer Tochter vor allem eines: ein Makel.
»Amalia kann trotzdem ein gutes Leben führen. Ein anderes sicherlich, als wenn sie hätte hören können, aber es bestehen dennoch Möglichkeiten«, begann er erneut.
Sie schwieg.
»Sehen Sie, Mrs Sherwood, Ihre Tochter ist nicht von Geburt an taub gewesen. Sie hat sprechen gelernt, sogar bereits etwas lesen und schreiben, wie mir ihre Gouvernante mitteilte. Das sind unschätzbare Vorteile!«
Elisabeth Sherwood zog die Augenbrauen hoch. »Wollen Sie mir sagen, dass sie weiter normal reden und einer Unterhaltung folgen können wird, so wie Sie und ich?«
Er schwieg einen Moment lang. »Nein, vermutlich nicht«, gab er schließlich zu. »Aber wenn man sie im Lippenlesen unterrichtet und daran arbeitet, dass sie ihre Sprache nicht verliert, wird sie sich zumindest immer verständigen können. Vielleicht auch mehr.«
»Verständigen? Natürlich.« Mrs Sherwoods Tonfall hatte etwas Zynisches bekommen.
»Es gibt sogar einige Schulen, die Taube unterrichten«, wagte er vorsichtig anzuführen.
Ihr Mund wurde zu einem Strich, der keinen Zweifel ließ, für wie abwegig sie eine solche Möglichkeit hielt.
»Meine Töchter werden zu Hause unterrichtet. Wir haben eine ausgezeichnete Gouvernante!«
Doktor Stevenson unterdrückte ein Seufzen, denn er hatte im Grunde mit keiner anderen Reaktion gerechnet.
»Dann erlauben Sie mir wenigstens, dass ich Ihnen die Namen und Adressen einiger Spezialisten und Lehrer hierlasse. Im Interesse Ihrer Tochter«, bat er.
Sie nickte, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet, und er war sich nicht sicher, ob sie die letzten Worte überhaupt mitbekommen hatte.
30
S ie kam sich vor wie auf einem Schiff, das vom Hafen abgelegt hatte und nun über den weiten Ozean segelte, ohne dass sie wusste, wo und ob sie jemals ankommen würde.
Die Beachtung und Aufmerksamkeit, die ihr ihre Eltern, Miss Carrington und auch die Angestellten auf Sherwood in den ersten Monaten geschenkt hatten, waren allmählich verschwunden und inzwischen einem beiläufigen Mitleid gewichen. Eine Art Alltag war zurückgekehrt. Wenn man mit ihr persönlich sprach, bemühten sich alle, langsam und deutlich zu reden, damit sie die Worte von ihren Lippen lesen konnte. Doch wenn sie sich untereinander unterhielten, der Redestrom schneller wurde und Amalia die Gesichter nicht direkt vor sich hatte, konnte sie dem Gespräch nicht mehr folgen. Oft bekam sie nicht einmal mit, worüber sie sprachen. Es war ein ohnmächtiges und frustrierendes Gefühl, wenn sie nicht begriff, warum ihr Vater lachte, oder plötzlich ein ernster oder nachdenklicher Ausdruck in den Augen von Miss Carrington oder ihrer Mutter zu entdecken war. Als hätte man vergessen, dass es sie gab, saß sie mitten unter ihnen und war doch nicht bei ihnen.
Es war meistens Cathleen, die versuchte, ihr mit Gesten und Zeichen zu verstehen zu geben, worüber die anderen sprachen. Zwischen ihrer Schwester und ihr hatte sich nach und nach eine eigene Sprache zu entwickeln begonnen – ein geheimer Code, der auf der stillen Komplizenschaft aufbaute, in der sie sich schon immer ohne Worte untereinander zu verständigen wussten, und der nun durch unzählige neue Zeichen, Gesten und mimische Ausdrücke erweitert und ergänzt wurde.
Ihre Mutter und Miss Carrington missbilligten diese Verständigungsweise allerdings zutiefst. Sie ermahnten Cathleen, Amalia solle von den Lippen lesen und sie beide sich nicht wie zwei Wilde miteinander unterhalten. Doch ihre Art, sich zu verständigen, hatte längst eine solche Eigendynamik entwickelt, dass niemand sie wirklich daran hindern konnte.
Amalia presste nachdenklich die Nase gegen die kühle Fensterscheibe. Es war früher Nachmittag, und
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