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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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nicht von dem Geschrei angelockt worden wäre und der Szene schließlich ein Ende gesetzt hätte.
    Amalia spürte Cathleens Blick auf sich. Ein sanfter Ausdruck zeigte sich darin, als ahne sie, was in ihr vorging.
    Sie musste zugeben, dass sie zunehmend ungern sprach. Es verunsicherte sie, dass sie sich selbst nicht mehr hören konnte. Nach innen, in ihrem Kopf, hatte sie noch immer das Gefühl, aber nach außen kam es ihr vor, als würden ihre Worte im Nichts verhallen. Sie bekam nicht mehr mit, ob sie zu laut oder zu leise redete und wie das, was sie sagte, klang. Cathleen und Miss Carrington verbesserten sie oft, doch vor allem, wenn es Worte waren, die sie nie gehört hatte, fiel es Amalia schwer, sie nachzusprechen.
    Unvermittelt stupste Cathleen sie in die Seite.
    Vielleicht ist der Lehrer ganz nett!
    Amalia nickte, doch sie kam nicht dagegen an, dass sie sich verletzt und so fühlte, als habe jemand gesagt, sie sei dumm.
    32
     
    M r Beans war ein mittelgroßer, unscheinbar wirkender Mann mit einer etwas zu großen Nase, über deren Spitze sich ein feines Netz aus roten Adern zog. Seine Lippen waren von einem bläulichen Rot, und seine kleinen, runden Äuglein schienen einen mit ihrem stechenden Blick in sich aufzusaugen. Amalia konnte ihn vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. Er war falsch – das spürte sie. Das glatte, überfreundliche Lächeln, das er ständig im Gesicht trug, konnte sie nicht täuschen.
    Sie sah, wie er ihrer Mutter und Miss Carrington Komplimente machte. Obwohl Amalia nicht hören konnte, was er zu ihnen sagte, merkte sie es an dem geschmeichelten Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Frauen. Dann tätschelte er ihr den Kopf und strich ihr über die Wange.
    »Ich werde dir beibringen, wie man wieder sehr schön spricht, Amalia«, sagte er. Sie las es von seinen Lippen, die er übertrieben vor ihrem Gesicht bewegte, und Miss Carrington und ihre Mutter lächelten zufrieden. Doch das, was er sagte, fühlte sich nicht wie ein Versprechen an, sondern wie eine Drohung.
    Jeden Tag musste sie von nun an endlose Ton- und Sprechübungen machen. Es war schrecklich. Er zog sie zwischen seine Knie und hielt sie fest, während seine Lippen in überdeutlichen großen Bewegungen immer und immer wieder dieselben Laute wiederholten.
    »Aaaaaa, eeeeee, iiiiii, ooooo …« Speichelfäden zogen sich durch seinen Mund, und eine Wolke fauligen Atems schlug ihr entgegen. Amalia kämpfte jedes Mal mit der Übelkeit. Hätte sie gekonnt, sie wäre weggerannt, doch Mr Beans’ Hände hielten ihre Schultern unerbittlich umklammert und hatten sie dicht zu sich gezogen, sodass es kein Entkommen gab
    »Aaaaaa, eeeeee, iiiiii, ooooo, uuuuu. Wiederhole das, Amalia!«
    Trotzig presste sie die Lippen aufeinander. Der eiserne Griff an ihren Schultern verstärkte sich, bis sie seiner Aufforderung schließlich halbherzig nachkam.
    »Aaaeaee, eieeie …«
    »Deutlicher!« Er schüttelte sie, und sie hasste ihn dafür nur umso mehr.
    »Noch einmal! Aaaaaa, eeeee, iiiii … Wiederhole!«
    Doch die Laute wollten einfach nicht so aus ihrem Mund, wie sie sollten. Sie war wie gelähmt in seiner Gegenwart und fürchtete die Grobheit, mit der er ihr Kinn packte und sie dazu brachte, die Lippen zu öffnen. Manchmal hielt er ihr einen Spiegel vors Gesicht und zwang sie, mit ihren Fingern in den Mund zu greifen, um ihre Zunge und ihren Gaumen zu fühlen. Und er machte es ihr vor. Voller Ekel sah sie, wie seine fleischige Zunge sich vor ihr in einem glitschigen Bogen nach oben bog. Doch das Schlimmste war der Ausdruck in seinen Augen – etwas Gieriges lag darin, das ihr Angst machte, und sie spürte das andere Wesen, das in ihm lauerte, wenn er sie an den Hüften enger zu sich zog.
    »So ein hübsches Mädchen – und du sprichst wie ein Affe! Willst du das?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte überhaupt nicht mehr reden.
    »Nun, ich werde dich schon dazu bringen, ordentlich zu sprechen!«
    Manchmal floh sie wie früher mit Cathleen in den Garten, und sie spielten das Spiel. Versteckt bei der alten Eiche, holten sie den Beutel hervor und sortierten die Steine nach Farben und wiesen sie den Menschen zu, die sie kannten. Unter all den Steinen gab es einen, der von einem gleichmäßigen, tiefen Schwarz und frei von jedem hellen Einschuss war. Sie hatten ihn bei einem Ausflug im Moor entdeckt, kurz bevor Amalia krank geworden war. Es war der Mr-Beans-Stein, wie sie ihn insgeheim nannte, denn es erschien ihr jetzt, als hätte dieser

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