Die Schwesternschaft
raschen Blick mit Madame. Die beiden Frauen sagten kein Wort, aber aus ihren Augen sprach weit mehr als ein bloÃer AbschiedsgruÃ.
Während Raye sich bereits der Tür näherte, eilte Victoria auf sie zu, um sie zu umarmen. Wer weiÃ, wie lange sie sich nicht mehr sehen würden. Raye erwiderte die Umarmung herzlich, dann fasste sie Victoria an den Schultern und näherte sich so, dass ihre Gesichter sich beinahe berührten. »Für alle Fälle hast du meine Telefonnummer. Für alle Fälle. Klar, kleine Hexe?«
»Danke«, murmelte Victoria. Es war eine Bindung entstanden. Sie wusste nicht, welcher Art, aber sie spürte, dass alles anders sein würde, sobald Raye durch diese Tür verschwunden war. Dann trat Raye hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Madame war reglos stehen geblieben und hatte die beiden beobachtet, als wenn dieser herzliche Abschied ihr nicht passen würde.
Victoria nahm das prosodische Ãbungsheft und verstaute es in der Tasche.
»Was machst du da?«, fragte Madame.
»Sie haben gesagt, dass Sie keine Zeit für mich haben«, erwiderte Victoria, ohne ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Setz dich einen Augenblick. Bevor du gehst, möchte ich dir eine Frage stellen.«
Victoria nahm Platz, die Tasche auf dem SchoÃ.
Madame musterte sie einige Augenblicke lang, wobei sie sich auf die Armlehne stützte. »Du musst ehrlich zu mir sein.«
Victoria nickte.
»Von deiner Antwort hängt sehr viel ab.«
Victoria fühlte sich unwohl. Vielleicht wollte Iv sichergehen, dass sie während ihrer Abwesenheit nichts über den Unterricht verraten hatte.
Madames Frage kam überraschend: »Hast du zufällig von mir geträumt?«
46
Lambay Island
Samstag, 1. Januar, 14.20 Uhr
Gemeinsam mit Arvo und Äerubina verlieà Lena die Kapelle, VjaÄeslav blieb zur Bewachung der Inselbewohner zurück. Sie schlugen den Weg ein, der zum Wohnhaus und von dort den Hang hinauf zum Kap führte, dorthin, wo noch vor Kurzem die Kinder gespielt hatten.
Äerubina trug eine groÃe schwarze Tasche. Arvo zog das GPS-Gerät hervor und überprüfte die Koordinaten, die er eingegeben hatte.
Breite 53° 29' 18,02'' N
Länge 6° 01' 16,33'' W
Sie liefen rund vierhundert Meter den Kamm hinauf. Der Wind blies heftig.
An einem bestimmten Punkt gab Arvo den beiden Frauen ein Zeichen stehen zu bleiben.
» Hier ist es«, erklärte er. »Das ist genau die Stelle.«
Äerubina stellte die Tasche ab und holte zwei Klappspaten aus Stahl hervor.
» Warte«, befahl Lena.
Sie befanden sich inmitten einer grasbewachsenen Ebene, die nach Osten hin sanft anstieg. Die Erde war feucht, die Luft salzig, und am Himmel hingen tiefe dunkle Wolken. Hier und dort erkannte man die Umrisse von Möwen, die sich im Wind treiben lieÃen.
Lena war verwundert. Sie hatte sich den Ort anders vorgestellt, hatte mit einem Baum, einem Feldstein oder einem keltischen Kreuz gerechnet. Aber nichts dergleichen. War es möglich, dass die Besten das Buch der Blätter mitten auf einer Wiese vergraben hatten? Ohne jeglichen Bezug, ohne ein Erkennungszeichen? Irgendetwas stimmte nicht, dessen war sie sicher. Sie lieà sich von Arvo das GPS -Gerät geben und überprüfte noch einmal die Koordinaten. Aber alles war korrekt. Vielleicht befand sich die Stelle ein klein wenig weiter drüben. Doch in dem gesamten Bereich, der den Koordinaten entsprach, gab es nichts, keinen Baum, keinen Strauch.
»Das Bodenradargerät, Arvo«, sagte sie schlieÃlich.
Der Mann holte den Aluminiumkoffer, mit dem er nach Dublin gekommen war, aus der groÃen Tasche. Er enthielt verschiedene Einzelteile, die er auf die Wiese legte und innerhalb weniger Minuten zusammensetzte. Zum Schluss erhob er sich und band sich eine Schlinge um die Brust, an der ein kleiner Computer mit aufgeklapptem Bildschirm befestigt war. Er war mit einem Gerät verbunden, das wie eine Mischung aus Staubsauger und Metalldetektor aussah. Arvo startete das Programm. Als er den andern in der Hotelbar den Inhalt des Koffers gezeigt hatte, hatte er ihnen versichert, dass die 500- MH z-Antenne das Eindringen des Signals bis zu drei Metern Tiefe erlaubte und dass das Gerät alle herkömmlichen Materialien erkennen würde. Darüber hinaus wurden alle während des Suchvorgangs gewonnenen Daten in Echtzeit auf das Display übertragen und auf der Festplatte
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