Die Schwesternschaft
Allererstes in die Klinik bringen lassen.
Nun stand er vor Gavril. Das Zimmer war in düsteres Licht getaucht. Alles wirkte unpersönlich, die perfekte Ordnung, der Geruch nach Desinfektionsmitteln in der Luft, die kostspielige Ausstattung.
Gavril, der an einen Tropf und ein Sauerstoffgerät angeschlossen war, versuchte ihn anzulächeln, aber er brachte nur ein merkwürdiges Grinsen zustande. Kirill beachtete es nicht weiter. In den Krankenstationen der Roten Armee hatte er gelernt, die Gesichter der verletzten Gefährten zu deuten, und er wusste, dass ein wesentliches Anzeichen von Schmerz darin bestand, wie jemand das Gesicht verzog. Und je mehr jemand versuchte zu zeigen, dass es ihm gut ging, desto subtiler zeigte sich der Schmerz.
Der Sibirier trat ans Bett und drückte die rechte Hand des Kranken, der mit einem schwachen Händedruck antwortete.
»Lena â¦Â«, flüsterte er.
Kirill sah ihm in die Augen. Sie hatten viel von ihrer Lebendigkeit eingebüÃt, aber er war sicher, dass sich Gavril bald erholen würde.
»Wir wissen alles«, sagte er.
Dann begann er zu erklären, er sprach langsam und deutlich wie zu einem kleinen Kind: »Lena hat ihre Spuren verwischt. Aber wir sind ihr auf den Fersen. Omarov hat zwei Männer darauf angesetzt, alle Passagierlisten der Flüge der letzten Tage zu durchkämmen. Sie hat sicher falsche Papiere verwendet, aber früher oder später werden wir sie finden.«
Gavril senkte langsam die Augenlider.
Kirill blieb noch eine Weile, seine Hand ruhte auf der von Gavril. Dann strich er das Laken glatt â eine Geste, die ihn selbst erstaunte â und verlieà das Zimmer.
DrauÃen wartete Nadja. »Hast du bemerkt, wie viel besser es ihm geht?«, rief sie aufgeregt.
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und führte sie in das kleine Wartezimmer, das für sie bereits eine Art Zuhause geworden war.
Kaum waren sie eingetreten, eilte ihnen eine Krankenhausangestellte in weiÃem Kittel entgegen, die gerade damit beschäftigt gewesen war aufzuräumen, entschuldigte sich und wollte den Raum verlassen. Doch Kirill hielt sie auf und bat sie, ihnen etwas zu essen zu bringen. Die Frau nickte, verbeugte sich und eilte hinaus.
Als sie Platz genommen hatten, begann der Sibirier endlich zu sprechen: »Ja, ich finde, er sieht gut aus. Aber du bist die Ãrztin. Du musst mir sagen, wie es um ihn steht.«
Nadja seufzte. »Es wird noch Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis er sich vollkommen erholt hat. Aber er schwebt nicht mehr in Gefahr.«
»Organschäden?«
»Bisher sieht es nicht so aus. Aber man muss abwarten, bis sein Zustand stabil ist, um genauere Untersuchungen durchführen zu können.«
Kirill stützte die Hände auf die Knie und setzte eine zufriedene Miene auf, aber er schwieg.
Nadja sah ihn eindringlich an. Endlich beschloss er, ihre Neugierde zu befriedigen. »Deine Arbeit in Sankt Petersburg war hilfreich. Wir haben eine Spur.«
»Wirklich?«
»Ja, auch wenn die Sache ziemlich kompliziert ist. Oder zumindest so, dass ich es nicht genau durchschaue. Aber vielleicht sagt ja dir, da du studiert hast, das Ganze mehr.«
Es klopfte an der Tür, und die Angestellte kam mit einem beladenen Wägelchen herein. Es gab Brötchen, Sandwichs, Gebäck, Wasser und Tee. Die Frau lieà das Wägelchen stehen, verabschiedete sich und schloss die Tür.
Kirill gab Nadja ein Zeichen zuzugreifen, aber sie schüttelte den Kopf. »Worauf wartest du? Erzähl schon«, drängte sie.
Der Sibirier biss in ein Brötchen. Dann berichtete er kauend, was er in Kasachstan erlebt hatte.
Er erwähnte die Ankunft nicht und auch nicht, wie der Fahrer auf geschickte Weise Parnok aus dem Spiel gebracht, ihn allein zurückgelassen hatte, aber er musste ihr einfach haarklein den Atomsee und Glinkas dortige Tätigkeit beschreiben. Nadja war sehr erstaunt und betroffen.
Am Ende erzählte Kirill, was bei Glinka geschehen war. »Als ich ihm das kleine Plakat zeigte, hat ihn der Schlag getroffen. Er konnte sich an alles genau erinnern und hat jedes Wort des Archivars aus Sankt Petersburg bestätigt.«
»Und hat er dir erklärt, was sich hinter dem Bühnenprospekt verbirgt?«
Kirill schüttelte den Kopf: »Leider nein. Er hat die Arbeit ausgeführt, aber er hat keine Ahnung, was es damit auf sich hat.«
»Doch genau dort liegt der
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