Die Schwesternschaft
derartigen Macht haben? Sie dachte an die Schwestern, die bereits darüber verfügten, die den einflussreichsten Männern der Welt zur Seite standen, denen, die die Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur innehatten. Eine Ãberlegung beunruhigte sie besonders. Denn was würde geschehen, wenn all diese Macht in die falschen Hände gelangte? Konnte einem das Bewusstsein, jeden beliebigen Mann zu beeinflussen, nicht zu Kopfe steigen? Gab es auch eine Unterrichtseinheit, die sich nur dieser Problematik widmete? Victoria hoffte es. Sie selbst hatte die Wirkung auf jenen jungen Mann im Maple Tree Cafe gespürt. Dabei war es nur eine einzige Silbe gewesen.
AuÃerdem gab es noch die Furcht vor dem Ritual, bei dem sie eine wichtige Rolle spielen sollte. Madame hatte angedeutet, dass Victoria, wenn alles gut ging, das Glück haben würde, nach Jahrzehnten als Erste dabei sein zu dürfen, wenn das Buch der Blätter aufgeschlagen würde. Iv war diesbezüglich ziemlich vage geblieben, hatte nur gesagt, dass man sie im richtigen Moment rufen werde.
»Es wird eine Zeit kommen, in der deine Vergangenheit nicht mehr zu dir gehören wird. Als sei sie niemals deine gewesen.« Ivs Gesicht hatte einen undurchdringlichen Ausdruck angenommen, und ihre Stimme schien von einem fernen Ort zu kommen, wie von einer anderen Person.
»Sing mit mir«, hatte sie ihre Schülerin aufgefordert.
Victoria hatte ein leichtes Kribbeln im Unterleib und auf der Zungenspitze gespürt, als würde sie eine Batterie berühren.
»Am gaeth i m-muir 3 « , hatte Iv angestimmt.
Victoria hatte sich sofort in Einklang gebracht und war ihrer Stimme gefolgt: »Am gaeth i m-muir, Am tond trethan, Am fuaim mara, Am dam secht ndirend, Am séig i n-aill, Am dér gréne, Am cain lubai, Am torc ar gail, Am he i l-lind, Am loch i m-maig, Am brà a ndai 4 â¦Â«
Dann hatte ein Gefühl der Wärme sie durchdrungen und sich in ihrem gesamten Körper ausgebreitet. Sie hatte gespürt, dass sich die Schamgegend, wie beim Lustempfinden, zusammenzog, und viele warme Tränen waren aus ihren Augen gequollen.
»Am gái i fodb fras feochtu, Am dé delbas do chind codnu, Coiche nod gleith clochur slébe 5 .« Die letzten Worte waren praktisch nur noch ein Flüstern gewesen, und Victoria hatte das Gefühl, auf ein Blätterlager auf einer frisch gemähten Wiese gebettet zu sein. Die Düfte waren ihr in die Nase gestiegen, und sie hatte den Wohlgeruch der Himbeersträucher, den herben Duft der Kiefernnadeln und den strengen Geruch der darunter versteckten Pilze wahrgenommen.
Sie hatte eine Vision gehabt: ein senkrecht in der Erde steckender, kreisförmiger Stein, in den Symbole aus der Pflanzenwelt gemeiÃelt waren. Blätter, so schien es ihr, und auÃerdem einer von diesen stark duftenden Holunderzweigen, mit einer Vertiefung für jede Beere. Hinter dem Stein ging gerade die Sonne auf, und der goldene Strahl traf sie ins Gesicht, blendete sie.
Victoria hatte nur langsam wieder die Augen geöffnet, als fiele es ihr schwer, zu erwachen und sich von dieser magischen Welt zu lösen.
» Wir haben zusammen das Lied von Amergin gesungen. Du warst perfekt. Das ist das beste Urteil, das du bekommen konntest. Meine Macht über dich und deine Macht über mich. Wie fühlst du dich?«
Nach kurzem Zögern hatte Victoria geantwortet: »Zart. Ich fühle mich zart.«
Madame hatte sie zum ersten Mal gestreichelt. »Geh jetzt nach Hause, Victoria. Ich bin stolz auf dich.« Dann hatte sie den Blick auf die Glasfront gerichtet, die Augen von Glanz erfüllt.
Noch ganz in Erinnerung an jene Landschaft versunken, war Victoria auf die StraÃe getreten. Sie hatte viele Kilometer zurückgelegt. Zeitweise hatte es geregnet, aber das war ihr gleichgültig gewesen. Die Kälte spürte sie nicht, sondern nur dieses Kribbeln auf der Zunge, das nicht nachlieÃ.
Noch hundert Meter bis zu ihrem Haus. Sie hielt das prosodische Ãbungsheft unter dem Arm, presste es so fest an die Seite, dass es schmerzte.
Ihr Handy klingelte. Briana. Sie nahm das Gespräch an wie in Trance.
»Ciao, meine Liebe, wo steckst du? Waren wir nicht verabredet?«
Das hatte sie vollkommen vergessen. »Entschuldige, Briâ¦Â«
»Macht nichts. Ich sehe dich nämlich!«
Victoria begriff nicht, dann bemerkte sie eine Gestalt, die mit den Armen in ihre Richtung
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