Die Schwesternschaft
erreicht hatte, gab er ein Zeichen, und die Rollen wurden getauscht.
Nadja hatte das Gefühl, im Weg zu sein. Sie war nicht nur zu nichts nütze, sondern begriff auch, dass die anderen, um sie zu schützen, Zeit verloren und sich in gröÃere Gefahr begaben.
Eine Minute später, als sie sich zwischen den weiÃen Mauern eines der zum Hafen hin gelegenen Häuschen in Sicherheit befand, atmete sie erleichtert auf. Dann wurde ihr mit einem Mal klar, dass sie nun das tun musste, was sie am meisten hasste: warten.
58
Dublin, Phoenix Park
Montag, 3. Januar, 13.01 Uhr
Es gab Heringe, das roch man. Diesmal gab es ganz bestimmt Heringe.
Paul Goonan, Chefinspektor des National Bureau of Criminal Investigation, des irischen Ãquivalents zum amerikanischen FBI , schob sämtliche Akten beiseite, um Platz in der Mitte des Schreibtisches zu schaffen. Dann zog er ein dreieckiges, in Aluminium gewickeltes Paket aus der Jackentasche und legte es auf die Tischplatte. Vorsichtig entfernte er das Stanniolpapier, bis ein gewaltiges zweischichtiges Tramezzino zum Vorschein kam. Er begutachtete es, um herauszufinden, welchen Belag seine Margaret diesmal gewählt hatte. Sie war nicht nur eine unglaublich liebenswürdige Frau, sondern auch eine Meisterin im Zusammenstellen von Lunch-Paketen.
Der Mittagsimbiss war sein tägliches Ritual. Er hielt das Tramezzino unter die Nase, schloss die Augen und sog den Duft ein. Ja, da war er wieder, der strenge Meeresgeruch. Es gab Heringe, das hatte er von Anfang an gerochen. Und was war ⦠dieser vertraute Duft nach Fett? Gesalzene Butter? Oder vielleicht Mayonnaise? Oder noch besser beides? Vorsichtig hob er die Scheibe mit dem Daumen an und warf einen verstohlenen Blick darauf. Ja, Butter und Mayonnaise. Er erkannte eine hauchfeine grüne Scheibe, die aus der Füllung herausragte, seine geliebten Gurken. Dann schloss er erneut die Augen. Er hatte geschummelt, hineinzusehen galt nicht. Aber was war dieser andere herbe Duft, so ganz anders und dennoch vollkommen? Er atmete tief ein. Orangenschale? Er öffnete die Augen, nahm die obere Scheibe ab und sah nach. Richtig geraten, es war Orangenschale. Gepriesen seist du Margaret: Das war nicht irgendeine Zutat, das war ein glänzender Stern am Geschmackshimmel. Sorgfältig legte er die Scheibe wieder darauf, nahm das Tramezzino in beide Hände und führte es zum Mund. Er biss hinein und schwelgte im Genuss. Genau in diesem Augenblick klingelte das Telefon.
»Verdammte ScheiÃe«, murmelte er mit vollem Mund.
Er legte das Tramezzino auf dem Stanniolpapier ab, schluckte den Bissen hinunter und griff zum Telefon. »Verflucht noch mal, Bridget, ich esse gerade«, sagte er, nachdem er einen Blick auf das digitale Display geworfen hatte.
»Da ist jemand am Telefon, Paul. Eine wirklich seltsame Geschichte.«
»Um was gehtâs denn?«, erkundigte er sich eilig.
»Lambay Island.«
»Lambay Island?«
»Ja. Ich habe den Kerl an der Strippe, der alle zwei Wochen Lebensmittel vom Festland liefert. Er sagt, dass er seit zwei Tagen von keinem mehr etwas gehört hat.«
»Na und? Fühlt er sich einsam? Was haben wir damit zu tun? Sag ihm, er soll die Küstenwache anrufen.«
»Das hat er bereits getan. Die haben ihm gesagt, dass er mit uns Kontakt aufnehmen soll.«
Goonan gab sich geschlagen. »Also gut, stell ihn durch.« Er rutschte auf seinem Stuhl zurecht und wartete, bis Bridget ihn verbunden hatte.
»Chefinspektor Paul Goonan, was kann ich für Sie tun?«
Am anderen Ende der Leitung holte jemand tief Luft, dann antwortete eine männliche Stimme: »Ja.«
»Wer spricht da?«
»Kapitän Paul Clayton«, stellte sich der Mann vor. Er buchstabierte seinen Namen und fügte dann hinzu: »Ich rufe vom Rogerstown-Hafen aus der Ortschaft Rush an.«
Goonan notierte sich den Namen auf einem Zettel. »SchieÃen Sie los, Kapitän.«
»Kennen Sie Lambay Island?«
»Wie jeder in Dublin«, erwiderte er süffisant. »Ich weiÃ, dass sich die Insel in Privatbesitz befindet und dass sich dort Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Ich weià auch, dass die Bewohner, trotz der Küstennähe, praktisch vollkommen isoliert leben.«
»Genau. Ich bin es, der Lambay Island vor der vollkommenen Isolation bewahrt. Ich bin der Kapitän der Shamrock, der Fähre, die die Insel mit Vorräten beliefert.«
»Kommen Sie zur
Weitere Kostenlose Bücher