Die Schwesternschaft

Sache.«
    Â»Im Winter sammelt Tim McCarthy, einer der Inselbewohner, alle vierzehn Tage die Bestellungen der anderen und ruft mich an. Er ist dort eine Art Bürgermeister, aber nur aufgrund seines Alters. Es gibt keine Hierarchien, denn es gehört dort alles den Barings und …«
    Â»Rufen Sie mich an, weil man vergessen hat, Ihnen die Einkaufsliste durchzugeben?«
    Â»Nein, mein Herr«, erwiderte der Seemann verärgert. »Ich weiß sehr wohl zwischen Vergesslichkeit und unerklärlichen Umständen zu unterscheiden.«
    Nichts zu machen, dachte Goonan und warf einen bedauernden Blick auf sein Tramezzino. Es war eine komplizierte Angelegenheit, und vorläufig würde er das Telefonat niemand anderem unterschieben können. »Haben Sie versucht dort anzurufen?«
    Â»Natürlich. Ich habe es bei Tim versucht, aber sein Handy war ausgeschaltet. Das ist in all den Jahren noch kein einziges Mal vorgekommen. Dann habe ich bei Michael O’Hara angerufen. Aber auch er war unerreichbar. Dasselbe bei allen anderen Handys der Insel. Fünf insgesamt.«
    Â»Die haben vermutlich kein Festnetz.«
    Â»So ist’s.«
    Â»Könnte es sich nicht einfach um eine Empfangsstörung handeln?«
    Â»Nein.«
    Â»Woher wollen Sie das wissen?«
    Â»Weil Lambay Island ein beliebtes Ziel für Angler aus Rush ist. Vorgestern hat mich einer von ihnen, Adam Hewson, von dort angerufen. Es gibt also keine Probleme mit dem Empfang.«
    Â»Und warum hat er angerufen?«
    Â»Auch das ist sehr merkwürdig. Er rief an, weil er gesehen hat, dass im Hafen der Insel ein Segelboot liegt.«
    Â»Und was ist daran so merkwürdig?«
    Â»Man darf wie gesagt nicht anlegen!«
    Â»Es könnte sich um Gäste der Eigentümer handeln …«
    Â»Die Barings kommen nie im Winter.«
    Goonan fing an, mit der freien Hand das Tramezzino wieder in das Papier zu packen. »Kapitän Clayton, haben Sie für all das eine vernünftige Erklärung?«
    Â»Warten Sie, es kommt noch mehr.«
    Â»Also dann …«
    Â»Um die Mittagszeit sind fünf Russen mit einem gemieteten Schlauchboot von hier, also vom Rogerstown-Hafen aus aufgebrochen.«
    Endlich begriff Goonan, weshalb man den Kapitän an das NBCI verwiesen hatte. »Russen? So à la Gorbatschow?«
    Â»Was hat Gorbatschow damit zu tun?«
    Â»Vergessen Sie’s, das ist eine alte Geschichte. Erzählen Sie weiter …«
    Â»Sie haben gesagt, sie seien Touristen und wollten einmal um die Insel fahren. Wir haben sie gewarnt, dass man nicht anlegen darf, aber sie haben nur mit den Schultern gezuckt. Es war auch eine junge Frau dabei. Aber die anderen waren wenig Vertrauen erweckende Gestalten.«
    Â»Was geht denn da, verdammt noch mal, auf Lambay Island vor sich?«
    Â»Genau das, mein Herr, frage ich mich auch.«

59
    London, Straßen von Kensington
Montag, 3. Januar, 13.01 Uhr
    Victoria legte den Heimweg wie unter dem Einfluss eines Zaubers zurück. Sie war in eine erweiterte Bewusstseinssphäre vorgedrungen und fühlte sich nun gleichzeitig ängstlich und aufgeregt. Nach der letzten Stunde bei Madame, während derer sie das In-Einklang-Bringen derart verinnerlicht hatte, dass sie dabei in Ekstase geriet, schien ihr nun jeder Stein, auf den sie trat, das Geheimnis der Welt in sich zu bergen, und mit jedem Grashalm, der zwischen dem Schnee und aus den Spalten im Gehweg hervorlugte, offenbarte sich ihr ein kleiner Teil des gewaltigen Mysteriums der Natur.
    Gewiss, Madame war deutlich geworden: Diese letzte Unterrichtsstunde hatte einen Zyklus beendet. Victoria hatte es gelernt, die Geheimnisse der Prosodie zu beherrschen, aber es würden noch zahlreiche weitere Lehren folgen. Iv hatte ihr die Namen ihrer zukünftigen Lehrerinnen nicht verraten, ihr aber einige der Disziplinen angekündigt, die folgen sollten. Mit ihr und Raye hatte sie an der Stimme gearbeitet, nun kam die Zeit, sich dem Körper zu widmen, der Haltung, dem Blick, dem Tastsinn … und auch dem Geist, der Philosophie, Poesie, Geschichte, Rhetorik und den Naturwissenschaften … Am Ende des Weges kam die Essenz, die höchste Magie, um die Welt nach dem eigenen Willen zu lenken. Mit anderen Worten: Es würde noch Jahre dauern. Wie viele? Das hinge von ihr ab, hatte Madame trocken erwidert, sie habe sich schließlich nicht zu einem Kochkurs angemeldet.
    Welche Folgen würde das Ausüben einer