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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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Schnauzbart, der aussah wie Saddam Hussein. »Laut eines NATO -Berichts sind in der vergangenen Nacht einige Taliban-Stellungen in der Provinz Uruzgan bombardiert worden. Für das NATO -Kommando war der Einsatz ein Erfolg: Mindestens vierzig Aufständische kamen ums Leben.«
    Flavio wusste bereits alles. Wenige Stunden zuvor hatte eine Kollegin aus dem Krankenhaus in Lashkar Gah telefonisch Kontakt mit ihm aufgenommen: Elf Frauen und Kinder hatten durch die Bombardierung schwere Verbrennungen erlitten und waren vollkommen entstellt dort angekommen. Eine der Frauen hatte in der Nacht ihren Sohn verloren, während sie ihn stillte.
    Â»Aber sie lässt sich nicht gehen«, hatte die Kollegin das Telefonat beendet. »Jetzt ist sie hier und stillt das Kind einer anderen Frau, die während des Bombenangriffs ums Leben gekommen ist. Alle kümmern sich um die Kleinen, um sie ein wenig aufzurichten. Es ist schön, das zu sehen.«
    Â»Es ist schön, das zu sehen«, wiederholte Flavio leise, mit einem Knoten im Hals. Am liebsten hätte er geschrien.
    Seit Anfang des Monats hatte das NATO -Kommando der ISAF -Mission mit einem neuen, großen Militärschlag gegen die Hochburgen der Taliban in ganz Afghanistan begonnen. Ziel war es, der von den Guerillakämpfern angekündigten Frühjahrsoffensive zuvorzukommen. Offizielle Berichte sprachen tagtäglich von Dutzenden getöteter Aufständischer. Für die Zivilisten schien sich dagegen niemand zu interessieren. Man nannte das Kollateralschäden. Nach dreißig Jahren Krieg hatten sich die Leute daran gewöhnt. Eine Frau verlor ihr Kind und stillte dafür ein anderes, das seine Mutter verloren hatte. Auch er hätte sich daran gewöhnen sollen, aber er schaffte es nicht.
    Flavio Giordano lebte seit über sechs Monaten hier in Anabah, inmitten der Berge. Als freiwilliger Helfer war er gerade zur rechten Zeit gekommen, um an einem Unternehmen mitzuwirken, das alle im Ort bewundernswert fanden: Man hatte es geschafft, am Ufer des Pandschir-Flusses aus alten Panzerteilen eine kleine Turbine zur Elektrizitätsgewinnung zu konstruieren. Flavio wusste, dass in Italien sogar ein Zeichentrickfilm über die Geschichte gedreht worden war. Er dachte an die Turbine und lächelte. »Es ist schön, das zu sehen«, wiederholte er leise.
    Auf den Tisch gestützt, war er gerade im Begriff einzudösen, als ihn ein lautes Hupen und kurz darauf ein Rascheln hinter seinem Rücken aus dem Halbschlaf aufschrecken ließen. Er sah nichts, aber er begriff sofort. Leyla sprang mit einem Satz auf seine Knie. Er drückte sie kräftig. Die Kleine war vier Jahre alt. Ihr Dorf war drei Monate zuvor bombardiert worden, und sie hatte dabei ihre Eltern und vier Brüder verloren. Der fünfte saß unter dem Verdacht, ein Taliban-Kollaborateur zu sein, im Gefängnis. Layla war mit Verbrennungen zweiten Grades an den Beinen und am rechten Arm ins Krankenhaus eingeliefert worden, deren Behandlung äußerst schmerzhaft war. Die verbrannten Partien mussten einer gründlichen Reinigung unterzogen werden, um das abgestorbene Gewebe zu entfernen und die Bildung von Granulationsgewebe zu beschleunigen. Doch das Mädchen hatte auch andere, noch viel offenkundigere Verletzungen davongetragen: Den ganzen Tag lang verkroch sie sich in ihrem Bett, verweigerte jegliche Nahrung und hüllte sich in hartnäckiges Schweigen, das niemand durchbrechen konnte.
    Aber dort, wo nicht einmal die afghanischen Krankenschwestern etwas auszurichten vermochten, hatte es Flavio seltsamerweise geschafft. Mit den richtigen Gesten, mit einer Geduld und Behutsamkeit, die nicht einmal er selbst an sich vermutet hätte, war er allmählich in die Einsamkeit des Mädchens vorgedrungen, bis die Kleine erneut Vertrauen zu ihrer Umwelt fasste und vor allem wieder anfing zu essen.
    Auch wenn sich Leyla nach wie vor versteckte, sobald eine medizinische Behandlung anstand, streifte sie ansonsten fröhlich in ihrem bunten Kleidchen durch das Krankenhaus und hielt sich am allerliebsten in Flavios Nähe auf. Aber in diesem Punkt hatte sie eine Konkurrentin. Und diese näherte sich gerade in diesem Moment.
    Nadja Derzhavin betrat atemlos den Raum. »Flavio, du musst sofort mitkommen!«
    Er hob Leyla hoch und stellte sie sanft auf den Boden, dann sprang er auf, lächelte dem Mädchen entschuldigend zu und folgte der Ärztin.
    Nadja war Russin. Sie

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