Die Schwesternschaft
lösen.
Während er die zugerichteten Beine desinfizierte, trat ein Mann mit stolzen Gesichtszügen auf ihn zu und deutete auf den Jungen: »Fazul, my son« , sagte er.
»Verstehe«, Flavio nickte geduldig. »Aber du musst rausgehen. Das ist Vorschrift.«
Der Mann schien nicht zu begreifen: Es war das erste Mal in sechs Monaten, dass Flavio so etwas erlebte. Normalerweise waren die Zivilisten respektvoll und diszipliniert gegenüber den Ãrzten und Pflegern. Oft boten sie sogar ihre Hilfe an. Aber der Neuankömmling betrachtete ihn beinahe hasserfüllt, als sei er schuld am Zustand seines Sohnes.
»Raus hier. Das ist Vorschrift«, befahl er auf Paschtunisch. Dann wandte er sich an einen einheimischen Pfleger, der gerade vorbeilief, und wiederholte das Gesagte, in der Hoffnung, dass er es in einen für den Vater des Jungen verständlichen Dialekt übersetzen würde. Aber als der Pfleger den Mann sah, ergriff er die Flucht. Offenbar handelte es sich um eine bedeutende Person, vermutlich einen Clan-Chef, und niemand durfte es wagen, ihm Befehle zu erteilen.
Plötzlich begann der Junge â Fazul, wie ihn der Vater genannt hatte â zu husten. Der Mann packte Flavio am Arm, als wollte er sagen: »Tu etwas!« Aber Flavio wusste nicht, was er tun sollte.
»No doctor« , erklärte er und schlug sich auf die Brust, »no doctor.«
Der Mann lieà sich nicht überzeugen und drückte Flavios Arm immer fester, wobei er ihn drohend ansah und auf Fazul deutete.
Selten hatte sich Flavio in einer derart absurden Situation befunden. Und er hatte keine Ahnung, wie er da herauskommen sollte. Er dachte an die Handbücher, die er gelesen hatte, in denen die Fähigkeiten der Stressbewältigung, die Arbeitsmethoden unter schwierigen Bedingungen und der psychische Druck, dem man begegnen muss, beschrieben wurden ⦠All der Blödsinn, den irgendein fleiÃiger Seelendoktor in seinem gemütlichen Arbeitszimmer verfasst hatte, während er in diesem Augenblick vollkommen hilflos einem Sterbenden gegenüberstand und der wütendste Clan-Chef der gesamten Region ihm den Arm zerquetschte. Er begriff gar nichts mehr. In seinem Kopf hallte der Ausschreibungstext der Hilfsorganisation wider, den er vor weniger als einem Jahr gelesen hatte: »Suchen geschultes, motiviertes Pflegepersonal mit mindestens zweijähriger Berufserfahrung, guten Englischkenntnissen und der Bereitschaft zu selbstständigem Arbeiten.« Und die Worte des zuständigen Personalleiters: »Du wirst dich um die Krankenhaushygiene, die Sterilisation und die Medikamentenausgabe kümmern â¦Â« Dabei sollte er am Ende ganz andere Dinge lernen. Er sollte lernen, dass einen Afghanistan vollkommen vereinnahmt, er sollte lernen, dass das Land nach rund dreiÃig Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen anderthalb Millionen Tote und beinahe vier Millionen Flüchtlinge zählte, er sollte lernen, dass bitterarme Menschen fähig waren, das Letzte herzugeben, das sie besaÃen â ein wenig Schatten an einem heiÃen Tag â, er sollte lernen, wie gut eine Portion Rosinenreis schmeckt, die man auf einer Strohmatte isst, und dass man grünen Tee schlürft, um sich nicht die Lippen zu verbrennen. Alles unnützes Wissen, um der augenblicklichen Situation zu begegnen.
Fazul hustete immer stärker, und der Vater hörte nicht auf, Flavio zu bedrängen, bis Nadja zum Glück wieder auftauchte. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um den ausgestreckt daliegenden Jungen zu sehen, bevor dieser mit einem letzten lauten Husten sein Leben aushauchte.
Der Vater warf erst Flavio, dann Nadja einen erbitterten Blick zu, und beide begriffen, dass man mit diesem Kerl wohl kaum vernünftig reden konnte. Genau in diesem Augenblick zückte der Mann die Pistole.
7
London, Madame Iv Lilys Büro
Donnerstag, 23. Dezember, 12.10 Uhr
Die neuen Atemübungen, denen sie sich auf Anweisung von Madame seit über einer Stunde unterzog, waren sehr anstrengend, aber Victoria führte jede Bewegung des Zwerchfells entschlossen und geduldig aus.
»Im Leben einer Frau spielt die Atmung eine grundlegende Rolle, denn mit ihrer Hilfe kann sie die Fähigkeit der Lustempfindung wiedererlangen.«
Victoria lieà mit einem Schlag dem Atem freien Lauf. Die Vorstellung, dass sich der Unterricht zu etwas anderem entwickeln könnte, als sie erwartete, verursachte ihr ein leichtes
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