Die Schwesternschaft
Schaudern.
»Skeptisch?«, fragte Iv und musterte sie kühl.
»Mich hat nur die letzte Behauptung erstaunt â¦Â«, erklärte Victoria.
Sie stand barfüÃig mitten in diesem Loft, mit einer Lehrerin, die ihr von Atmung und Lust erzählte. Was hatte das mit Schauspielerei zu tun? Schauspielern war für Victoria immer gleichbedeutend mit harter Arbeit, Anstrengung und Ehrgeiz gewesen. Lust spielte dabei keine Rolle. Die würde später kommen, nachdem sie ihre Träume verwirklicht hatte.
Für ihre Karriere hatte sie stets auch die Avancen von Männern, die ihr hilfreich werden konnten, in Kauf genommen. Sie wusste jedoch, dass sie sie zum eigenen Vorteil lenken konnte, und falls es nötig geworden wäre, sich hinzugeben, hätte sie zumindest stark davon profitiert. Aber was hatte das mit Lust zu tun? AuÃerdem war Victoria beinahe sicher, dass sich Madame, um zu erreichen, was sie erreicht hatte, niemals auf solche Kompromisse eingelassen hatte, zu denen sie selbst bereit war.
»Dein Blick beweist«, nahm Iv den Faden wieder auf, »dass du nicht die leiseste Idee hast, was ich meine.«
Victoria schwieg nur, bis Madame ihr ein Zeichen gab, endlich zu sprechen.
»Ich verstehe nicht, Madame. Ich verstehe den Zusammenhang mit der Lust nicht. Ich bin hier, um eine Schauspielerin zu werden, die besser ist als alle andern ⦠und ich werde es schaffen, auch wenn ich dafür sterben muss.«
Madame trat ans Fenster, und ihr wunderschönes weiÃes Haar nahm einen leicht goldenen Schimmer an, beinahe wie in früheren Zeiten.
»Es geht hier nicht um den Tod. Zumindest nicht so wie du ihn verstehst, in diesem romantischen Sinn von Opfer und Vergessenheit. Du hast ein ganzes Leben lang Zeit, um einem Traum nachzujagen und dabei zu sterben. Aber zu leben ist für eine Frau nicht selbstverständlich. Für viele von uns ist es ein Gewinn, etwas, das mit der nötigen Anstrengung neu erlernt werden muss. Sag mir also, weshalb dieser Weg nicht auch lustvoll sein sollte?«
Victoria war verwirrt. Sie hatte nicht vor, sich auf derart abgelegenes Terrain zu begeben. Was interessierte sie die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft?
»Ich will dir etwas zeigen«, sagte Madame und näherte sich dem Gemälde der Medusa. »Schau dir das Bild genau an: Was siehst du?«
Victoria betrachtete es eingehend und fand es noch beunruhigender als zuvor. Wer würde es in der eigenen Wohnung aufhängen wollen?
»Das ist eine Originalstudie zu Böcklins Medusa. Was sagt sie dir?«
Victoria versuchte, das Gemälde zu analysieren, sie musterte die glanzlosen, erloschenen Augen in dem wächsernen, von Dunkelheit umrahmten Gesicht. Das einzig lebendige Element waren die Schlangen, die noch ein Quäntchen Energie zu besitzen schienen. Doch Victorias Aufmerksamkeit wurde von dem Mund gefesselt, der halb geöffnet war, als wolle er einen letzten Fluch gegen denjenigen ausstoÃen, der diesen Kopf abgeschlagen hatte.
»Sie stimmt mich traurig«, erklärte sie schlieÃlich.
Madame trat neben sie, um mit ihr gemeinsam das Bild zu betrachten. »Warum?«
Victoria spähte aus dem Augenwinkel zu ihrer Lehrerin, in der Hoffnung, eine Antwort zu finden.
»Vielleicht, weil es eine Frau ist, die man enthauptet hat?«, überlegte sie.
Iv seufzte, sagte jedoch nichts und heftete den Blick unverwandt auf das Bild, während sie sich das schmale Kinn rieb.
Victoria bemühte sich, etwas Besseres zu finden. »Man sieht ⦠Gewalt und Sinnlichkeit, Leben in den Schlangen und Tod im Gesicht. Die Medusa ist ein mythologisches Ungeheuer, sie steht für etwas Verlorenes. Die Farbkomposition und â¦Â«
»Das genügt!«, unterbrach sie Madame.
Victoria erstarrte. Ivs Tonfall verhieà nichts Gutes.
»Ich habe dich nicht um eine kunsthistorische Beschreibung gebeten. Ich habe dich nach Gefühlen gefragt. Nur Mut: Welches Bild kommt dir als Erstes in den Kopf, wenn du das Gemälde betrachtest?«
Victoria wusste nicht, was sie sagen sollte, in ihrem Kopf waren verschiedene Bilder: verschlossene Glastüren, ein granatfarbener Läufer auf den Treppen.
»Los, nenn mir ein Bild!«
»Ich weià nicht â¦Â«
»Jetzt!«, befahl die Lehrerin.
»Vielleicht ein â¦Â«
»Nicht vielleicht, was?«, erhob Madame die Stimme.
»Madame ⦠ich â¦Â«
»Was für eine
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