Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
Vom Netzwerk:
hatte in Frankreich Medizin studiert und war nach Beendigung ihrer Assistenzzeit im Krankenhaus als Freiwillige nach Afghanistan gegangen. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch bei allen Mitarbeitern beliebt, da sie Entschlossenheit und Zähigkeit mit einem hohen Maß an Sensibilität verband. Sie sprach sehr gut Französisch, Englisch und Paschtunisch, sodass man ihre Herkunft praktisch vergaß. Über diese verlor sie nie ein Wort, nicht einmal bei Flavio, mit dem sie mehr als nur Freundschaft verband. Sie hatten sich auf ein paar leidenschaftliche Episoden eingelassen, das Ganze aber nie vertieft, als seien die Ereignisse ringsum wichtiger als das.
    Als sie den Kantinenbereich verlassen hatten, begriff Flavio, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Eine lange Reihe staubiger Wagen nahm den Platz vor dem Krankenhaus ein. Sie waren voller Verletzter. Die Krankenträger eilten wie verrückt hin und her, um sie hineinzuschaffen und diesem gewaltigen Zustrom an blutüberströmten Zivilisten Herr zu werden. Flavio fiel sofort auf, dass es ausschließlich Männer waren. Seltsam − Bomben unterschieden nicht zwischen den Geschlechtern.
    Â»Was ist passiert?«, fragte er Nadja, während sie auf den Eingang der Notaufnahme zuliefen.
    Â»Eine Bombe während einer Hochzeitsfeier in Taloquan.«
    Deshalb waren es nur Männer, dachte Flavio. In Afghanistan wurden Hochzeiten getrennt gefeiert, die Frauen im Haus und die Männer im Freien.
    Â»Jemand meinte etwas von einem zurückgewiesenen Verehrer«, fügte Nadja aufgeregt hinzu. »Die Frau, die man ihm als kleines Mädchen versprochen hatte, sollte nun einen anderen aus dem Dorf heiraten. Aber viele glauben, dass es die Taliban waren. Sie dulden keine Musik und keinen Tanz, nicht einmal auf einer Hochzeit.«
    Dann war keine Zeit mehr zu reden. Sie betraten die Notaufnahme, wo man nach einem bewährten Schema diejenigen Fälle auswählte, die als Erste in den Operationssaal gebracht wurden.
    Auf einem improvisierten Feldbett lag ein Junge von höchstens vierzehn Jahren. Es war nicht einmal Zeit gewesen, die Plastikplane, in die man ihn gewickelt hatte, zu entfernen, geschweige denn das blutgetränkte Laken oder die Lumpen, die seine Wunden bedeckten. Flavio übernahm diese Aufgabe mit großer Vorsicht. Der Junge blieb reglos und stumm. Durch die Explosion war sein Gesicht verbrannt, die Bombensplitter hatten ihn am Rücken, an den Armen und am Hals verletzt, der so blutüberströmt war, als habe man ihm die Kehle durchtrennt.
    Als Flavio die Plane anhob, bot sich ihm ein grauenhafter Anblick: Das rechte Bein war noch vorhanden, wenn auch von Wunden zerfleischt, aber das linke war nur noch ein Stumpf, der unterhalb des Knies in zwei aus dem Fleisch ragenden Knochenspitzen endete.
    Flavio sah zu Nadja. Beide waren an weitaus schlimmere Szenen gewöhnt. Dennoch sprach Niedergeschlagenheit aus ihrem Gesicht, die Unfähigkeit, sich damit abzufinden.
    Â»Stabilisieren wir ihn«, entschied Nadja eilig.
    Sie machten sich an die Arbeit, doch nach ein paar Sekunden kam Marco, der erfahrenste Chirurg in Anabah, herein und befahl Nadja, ihm sofort zu folgen. Sie brauchten Hilfe im Operationssaal.
    Â»Tu, was du kannst«, sagte Nadja zu Flavio, bevor sie verschwand. »Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
    Während sich alles um ihn herum in atemberaubendem Tempo bewegte − Pfleger, Verletzte, Ärzte, Verwandte −, starrte Flavio wie gelähmt auf den Jungen. In den vergangenen sechs Monaten hatte er sich oft fehl am Platz gefühlt. Er wäre gern Chirurg gewesen und nicht bloß Pfleger. Aber dafür war Ausdauer nötig, eine Tugend, die er nicht hatte. Irgendwann hatte er Nadja die Wahrheit erzählt: Er war erst mit weit über dreißig Krankenpfleger geworden, aus reinem Zufall, denn wenn er dieses letzte Ausbildungsangebot nicht angenommen hätte, hätte er keine Arbeitslosenunterstützung mehr erhalten. So musste er seinen bis dahin gehegten Wunsch, Maler zu werden, aufgeben. Er hatte fast sechs Jahre lang in Rom gearbeitet, vor allem in der Gesundheitsvorsorge. Dann hatte ihn erneut die Reiselust gepackt, und nun war er hier: einundvierzig Jahre alt und noch immer Anfänger.
    Mit einer Schere zerschnitt er vorsichtig die Kleidung des Jungen und gab darauf acht, nicht aus Versehen zusammen mit dem Stoff den Schorf von den verbrannten Hautpartien zu

Weitere Kostenlose Bücher