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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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den Kopf, griff nach der Pistole und setzte sie an die Schläfe.
    Er zögerte einen Augenblick. Dann drückte er die Nase erneut in das weiße Pulverhäufchen und tauchte mit neuem Bewusstsein daraus empor.
    Â»Die Welt gehört mir!«, schrie er. »Kommt und holt mich!«
    Dann fing er an, wie ein Verrückter in die Decke seines Wohnwagens zu schießen, zerstörte die Neonröhre und das Oberlicht.
    Â»Ich bin Denis Kombarov! Der größte Regisseur der Welt!«, brüllte er außer sich. »Trau dich, Derzhavin, zeig mir, was du kannst. Und außerdem, was willst du überhaupt von mir?«
    Dann senkte er plötzlich die Stimme: »Es war bloß ein Produktionsfehler.«

9
    Anabah, Panshir Medical Centre
Donnerstag, 23. Dezember, 21.34 Uhr
    Sie hatten ihn zu viert beknien müssen, aber am Ende war es den andern Afghanen aus dem Clan gelungen, Fazuls Vater zum Einstecken der Pistole zu bewegen und ihn hinauszubegleiten. Doch auch dort hatte der Mann nicht aufgehört, seine Wut herauszuschreien. Ein weiterer Afghane, ein bulliger Kerl in blutverschmierter Festkleidung, aber ohne ernsthafte Verletzungen, war zu Flavio gegangen und hatte ihm die Situation in gebrochenem, aber verständlichem Englisch geschildert. Der Vater hieß Ahmad, und sein Verhalten hatte einen bestimmten Grund: Fazul war der Bräutigam. Ahmad, der Clan-Chef, hatte bereits seit einigen Monaten Anzeichen einer psychischen Störung an den Tag gelegt, nachdem sein zweitältester Sohn durch eine Mine in die Luft gesprengt worden war. Aber nun, da auch sein ältester Sohn gestorben war, noch dazu am schönsten Tag seines Lebens, schien Ahmad vollkommen den Verstand verloren zu haben. Die Schreie, die von draußen hereindrangen, bezeugten, dass er sich kein bisschen beruhigt hatte. Aber weshalb war er auf ihn wütend, dachte Flavio, und nicht auf die Mörder, die die Bombe gelegt hatten? Es war eine unsinnige Reaktion. Flavio versuchte, sich auf die Behandlung der Verletzten zu konzentrieren, aber er schaffte es nicht, die Schreie zu ignorieren, und allmählich begann er sich zu fürchten. Doch nicht einmal dafür war Zeit.
    Der Nachmittag war unglaublich schnell vergangen. Das gesamte Krankenhauspersonal hatte sich um die Verletzten gekümmert. Nadja und die anderen Chirurgen hatten den Operationssaal kein einziges Mal verlassen, und am Ende, gegen neun Uhr abends, konnte man mit dem Ergebnis mehr als zufrieden sein: Es hatte nur ein einziges Todesopfer gegeben, Fazul. Aber gerade diese Nachricht entfachte in Ahmad, der trotz der Kälte kein einziges Mal den Platz verlassen hatte, erneut die Wut. Weder die Verwandten noch die Freunde, die bei ihm waren, schafften es, ihn zu beruhigen, und als der italienische Chirurg Marco Ferraro versuchte, mit ihm zu reden, ging er auf ihn los. Wieder griffen mehrere Leute ein, um ihn zu besänftigen, und an diesem Punkt wurde Marco deutlich: Ahmad musste fortgeschafft werden, die Situation war unhaltbar.
    Der bullige Afghane übernahm die Aufgabe, ihn in den Wagen zu befördern, aber kaum hatten sie das Tor hinter sich gelassen, hielt der Wagen an, der Afghane stieg aus, lief zurück ins Krankenhaus und suchte die Flure ab, bis er Flavio gefunden hatte. Der Bulle war sehr direkt. In seinem seltsam klingenden Englisch erklärte er, dass Ahmad blind vor Zorn sei und in ihm den Verantwortlichen für den Tod seines Sohnes sehe. Alle wüssten, wie sehr ihn der Schmerz verwirrt habe, aber es gäbe keine Möglichkeit, ihn zur Vernunft zu bringen: Ahmad hatte geschworen, Flavio umzubringen. Der Bulle erklärte, dass er im Augenblick nichts zu befürchten habe, da man ihn sofort ins Dorf bringen werde. Er sei jedoch zurückgekommen, um ihn zu warnen: Ahmad war ein gefährlicher Mensch und noch dazu Clan-Chef. Er würde wieder auftauchen, allein um zu beweisen, dass er seinen Schwur hielt.
    Â»Es tut mir leid um Fazul«, hatte Flavio erwidert, »aber er ist zu spät gekommen. Wir konnten nichts mehr tun. Bitte erklären Sie das seinem Vater: Ich habe damit nichts zu tun.«
    Der Afghane zögerte ein wenig, bevor er antwortete. »Die Mächtigen«, begann er schließlich, »lassen sich oft nichts sagen. Sie wollen anderen lediglich ihre Macht demonstrieren. Dasselbe dachten auch alle Afghanen nach den Twin Towers, als Bush uns angriff: Ich habe damit doch nichts zu tun! Ahmad ist nicht so mächtig wie

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