Die Schwesternschaft
sieben Sprossen/ Ich bin eine Flut: über einer Ebene/ Ich bin ein Wind: auf einem tiefen See/ Ich bin eine Träne: die von der Sonne fiel â¦Â« , las Victoria mit leiser Stimme auf dem Bildschirm ihres Laptops.
Es war das Lied von Amergin in einer der unzähligen Ãbertragungen aus dem Gälischen.
Madame Iv hatte ihr die Aufgabe gestellt, möglichst viele Informationen über diese alte Hymne an die Natur und den Menschen zu sammeln.
Victoria wollte an ihrem Cappuccino nippen, doch bemerkte dann, dass sie ihn bereits ausgetrunken hatte. Sie hob die Hand, um Briana Morris â die Freundin, mit der sie vom Kindergarten bis zur Oberschule ständig zusammen gewesen war â heranzuwinken. Sie arbeitete halbtags im Maple Tree Cafe, um sich ihr Medizinstudium zu finanzieren. Briana gab ihr ein Zeichen zu warten, dann bediente sie zwei junge Männer mit Chelsea-Schals, die bereits vier leere Biergläser vor sich stehen hatten.
Victoria beobachtete die Freundin: Mit ihrem schlanken Körper, dem zu kleinen Zöpfen geflochtenen Haar und der makellosen schwarzen Haut, die immer nach Sandelholz roch, war Briana eine echte Schönheit. Victoria hatte versucht, sie in ihre Welt mit einzubeziehen: Ihre leise, dunkle Stimme hätte das Interesse eines jeden Regisseurs geweckt. Aber Briana wollte nichts davon wissen. Allein die Vorstellung, auf der Bühne zu stehen, mit Dutzenden, oder schlimmer noch, Hunderten von Zuschauern, war ihr furchtbar unangenehm. Sie wäre durch den Notausgang geflüchtet, noch ehe sich der Vorhang geöffnet hätte. Die sterile Krankenhausatmosphäre, mit Menschen, um die man sich kümmern musste, und in der sie die vollständige Kontrolle über die Situation hatte, war ihr bei Weitem lieber.
Dennoch hatte sich Briana keine einzige von Victorias Aufführungen entgehen lassen: immer in der ersten Reihe und stets bereit, aufzuspringen und Beifall zu spenden. Auch wegen irgendwelcher Jungen hatte es nie Konkurrenz gegeben. Briana war seit ihrem siebzehnten Lebensjahr erklärte Lesbierin, zum groÃen Kummer ihrer Eltern. Zumindest so lange, bis ihre Lebenspartnerin, Dr. Ridley, Brianas Mutter bei einem Autounfall Erste Hilfe geleistet hatte. Und schlieÃlich hatte sich alles zum Besten gewandt: Briana lebte mit ihrer groÃen Liebe zusammen. Ihre Mutter bedrängte sie zwar, weil sie so dünn und abgearbeitet wirkte, doch sie selbst war glücklich.
»Ich bin ein Falke: über der Klippe/Ich bin ein Dorn: unter dem Nagel/Ich bin ein Wunder: zwischen Blumen/Ich bin ein Zauberer: wer auÃer mir/ Entzündet den kühlen Kopf mit Rauch?«
Je weiter sie den Text las, desto weniger begriff sie, was er mit ihrem neuen Unterricht zu tun hatte. Wenn sie ehrlich war, begriff sie eigentlich fast gar nichts, aber sie stand erst am Anfang, und sie vertraute Madame.
Sie suchte im Netz nach dem gälischen Original. Aber als sie die Seite fand und Am gaeth i m-muir, Am tond trethan, Am fuaim mara las, wurde ihr klar, dass sie, zumindest vorläufig, nicht in der Lage war, einen Zusammenhang zwischen jenem Lied und Madame Ivs Unterricht herzustellen.
Es gab jedoch noch ein anderes Thema, mit dem sie sich auseinandersetzen konnte. Madame Iv hatte von Prosodie gesprochen, ein Begriff, der ihr nicht viel sagte. Der Webbrowser startete mit der Homepage der Tageszeitung The Independent, die über den tragischen Tod von Catherine Derzhavin berichtete. Victoria musste den Artikel sofort lesen. Zum einen, weil es sich um eine berühmte Schauspielerin handelte, vor allem aber, weil sie eine von Ivs Schülerinnen gewesen war und Victoria befürchtete, das Unglück könnte irgendetwas mit ihrem Unterricht zu tun haben.
»Tod eines Stars«, lautete die Ãberschrift. Es folgte eine kurze Biografie der Schauspielerin: Als Tochter des französischen Regisseurs Robert Ferrari hatte Catherine bereits als Kind mit der Schauspielerei begonnen. Ihre erste Rolle bekam sie in dem Film Die sieben Spuren, unter der Regie des Vaters. Mit vierzehn Jahren spielte sie in dem Welterfolg Das Mädchen aus Sankt Petersburg mit, durch den sie zu einer der gefragtesten Stars ihrer Generation wurde. Auf dem Höhepunkt ihrer Filmkarriere, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, lernte Catherine den russischen Magnaten Gavril Derzhavin kennen. Sie heiratete ihn wenig später und brachte schlieÃlich die gemeinsame Tochter Nadja zur Welt. Diese folgte
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