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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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Bush, aber hier ist er der Mächtigste. Wenn du einen Rat willst, mach dich aus dem Staub.«
    Mit diesen Worten verschwand er und ließ Flavio zutiefst beunruhigt zurück.
    Er konnte es nicht glauben. Es war das erste Mal, dass ihm jemand so direkt mit dem Tod drohte. Was sollte er tun?
    Er beendete seinen Kontrollgang bei den Patienten und eilte entschlossen zur Kantine, um mit Nadja zu sprechen. Sie hatte gerade angefangen, eine Portion gelben Reis mit Karotten und Rosinen zu essen, und warf dabei hin und wieder einen gleichgültigen Blick auf den Fernseher, genau wie er vor einigen Stunden. Er berichtete ihr kurz, was vorgefallen war.
    Dann gestand er ihr, wie er sich fühlte. Er hatte Angst.
    Flavio erinnerte sich an die Grausamkeiten, die er in dem Kriegskrankenhaus in Sierra Leone, seiner vorherigen Wirkungsstätte, gesehen hatte. Er sah die Kämpfer vor Augen, die sich, vollgepumpt mit rituellen Drogen, nicht nur für unbesiegbar, sondern sogar für unsichtbar hielten, und Lanzen und Macheten schwingend dem Feind entgegenstürmten, um in Sekundenschnelle von den AK -47 niedergemäht zu werden.
    Aber er hatte keine Angst empfunden: nur Grauen angesichts der Dummheit der Männer, die sich buchstäblich in den Geschosshagel stürzten.
    Er erinnerte sich auch an die Rebellen der RUF, der Revolutionären Vereinigten Front: größtenteils Kinder, deren Grausamkeit einen erschaudern ließ. Sie verstümmelten alle männlichen Gegner, wobei sie zuvor fragten, ob sie bloß die Hand oder den ganzen Arm abtrennen sollten: Magst du lieber einen kurzen oder lieber einen langen Ärmel?
    Doch selbst dabei hatte er niemals Angst verspürt, sondern nur Grauen, wenn er den Verstümmelten begegnet war.
    Gegen das Grauen war er geimpft. Einmal war er in ein Dorf gekommen, durch das kurz zuvor die RUF durchmarschiert war. Unter den unzähligen von Fliegen bedeckten Leichen hatten sie auch eine Frau mit aufgeschlitztem Leib und daneben einen ihr entrissenen acht Monate alten Fötus gefunden. Die wenigen Überlebenden berichteten, dass vier Kindersoldaten − nachdem sie die hochschwangere Frau vergewaltigt hatten − anfingen, Wetten über das Geschlecht des Ungeborenen abzuschließen. Am Ende hatten sie nachgesehen, während die Frau noch am Leben war.
    Auch damals hatte er Abscheu vor der Welt empfunden, aber keine Angst.
    Doch nun standen die Dinge anders. Nach so vielen Jahren, die er einfach vor sich hingelebt hatte, ohne dass es etwas zu verlieren gab, in denen er die Gefahr nicht gescheut, sie geradezu gesucht, ja herausgefordert hatte, merkte er nun, dass er plötzlich am Leben hing. Und der Grund dafür saß vor ihm: Nadja.
    Â»Deshalb habe ich jetzt Angst«, gestand er ihr aufrichtig.
    Sie rückten nebeneinander und warfen hin und wieder einen Blick zum Fernseher, in dem immer noch Al-Jazeera International lief.
    Nadja streichelte ihm über die Wange.
    Â»Marco hat mir versichert, dass ich die Arbeit jeden Augenblick abbrechen und mich heimfliegen lassen kann«, sagte er.
    Â»Du kannst doch nicht ausgerechnet jetzt gehen«, flüsterte Nadja.
    Flavio seufzte. Er war müde, aber er wollte nichts vor ihr verbergen. »Ich habe noch nichts entschieden, aber die Familie dieses alten Irren ist deutlich geworden: Er wird zurückkehren und versuchen, mich umzubringen. Wenn ich bleibe, bringe ich euch alle in Gefahr.«
    Â»Deswegen brauchst du keine Angst zu haben, du darfst nicht klein beigeben …«, erwiderte sie, aber die Worte erstarben auf ihren Lippen.
    Flavio wandte sich um und sah sie an: Sie starrte mit offenem Mund auf den Fernsehbildschirm, auf dem das Foto einer Frau zu sehen war.
    Der Nachrichtensprecher verkündete: »Die Ermittler versuchen die näheren Umstände zu klären, unter denen die bekannte französisch-russische Schauspielerin Catherine Derzhavin während der Dreharbeiten ums Leben kam …«
    Nadja sprang auf und eilte auf den Fernseher zu. Sie drehte die Lautstärke auf.
    Â»Die Frau wurde sofort ärztlich versorgt, aber ihr Zustand schien von vornherein …«
    Flavio trat zu ihr, ohne irgendetwas zu begreifen.
    Sie schloss ihn fest in die Arme.
    Â»Aber …«, fragte er verwirrt. »Was ist los? Wer ist das?«
    Â»Meine Mutter«, antwortete Nadja unter Tränen.

10
    London, »Maple Tree Cafe«
Freitag, 24. Dezember, 8.45 Uhr
    Â»Ich bin ein Hirsch: mit

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