Die Schwesternschaft
jedoch nie den Spuren der Mutter, sondern verzichtete zugunsten ihres humanitären Engagements auf die glamouröse Welt des Films. Die Zahl der Filme, an denen Catherine Derzhavin mitgewirkt hatte, war nicht zuletzt deshalb so beeindruckend hoch, weil sich die Schauspielerin immer wieder zwischen Autorenkino und kommerziellen Streifen, wie ihrem letzten Film Kommissarin Xandra und der Nebel des Fünften Quadranten, hin und her bewegte.
Erst am Ende des Artikels fand Victoria einen Hinweis auf Iv: »Ihre Karriere verdankt sie vor allem der bekannten Schauspiel-Agentin Iv Lily.« Weiter nichts.
Victoria wechselte zu Google und versuchte, die beiden Namen »Iv Lily« und »Catherine Derzhavin« zusammenzubringen, aber ohne groÃen Erfolg. Sie gab es auf. Stattdessen tippte sie »Prosodie« ein und erhielt prompt die Erklärung:
»Die Prosodie ist das Teilgebiet der Linguistik, das sich mit der Intonation, dem Rhythmus, dem Sprechtempo und der Akzentuierung der gesprochenen Sprache beschäftigt. Die prosodischen Merkmale einer Einheit der gesprochenen Sprache (ob Silbe, Wort oder Satz) werden suprasegmental genannt, da sie gleichzeitig mit den Segmenten auftreten, in die diese Einheit unterteilt werden kann.«
Na schön, nun war sie nicht viel schlauer als zuvor. Victoria hatte sich mit Musiktheorie beschäftigt und auch eine Zeit lang Klavierunterricht genommen, aber sie hatte noch nie die Bezeichnung suprasegmental gehört. Das Einzige, was sie begriff, war, dass es um die Intonation der Stimme, die Lautstärke und all das ging, worüber Madame Iv gesprochen hatte, bevor sie sich von ihr verabschiedete.
Sie ging zurück auf die Datei mit dem Lied von Amergin, als ihr plötzlich ein zarter Duft in die Nase stieg und sie eine Stimme hinter sich hörte: »Ich bin ein Speer: der von Blut dröhnt/ Ich bin ein Lachs: in einem Teich/ Ich bin ein Zauber aus dem Paradies â¦Â«
Briana las den Text auf ihrem Bildschirm. Mit einem Klick verbarg Victoria die Seite.
»Was liest du da für Zeug? Du bist ein Speer, der von Blut dröhnt? Alles okay mit dir?«
Victoria spürte, dass ihr der kalte Schweià ausbrach. Nachdem sie die Verschwiegenheitsvereinbarung unterzeichnet hatte, schien es ihr, als ob sie alles, was sie selbst betraf, geheim halten müsse. »Das ist ein ⦠es ist eine Recherche, um die mich meine Mutter für ihre Reihe gebeten hat.«
Victorias Mutter arbeitete in einem kleinen Verlag, und es war nicht abwegig, dass sie in ihrem Auftrag Recherchen erledigte.
Briana nahm ihr gegenüber Platz, und Victoria nutzte die Gelegenheit, um den Laptop zuzuklappen.
»Du siehst müde und abgearbeitet aus â¦Â«, bemerkte die Freundin lächelnd.
»Du hast recht: Ich bin todmüde und heilfroh, wenn Weihnachten endlich vorbei ist. Dabei ist es doch eigentlich das Fest, an dem man besonders ruhig und ausgeglichen sein sollte, oder?«, sagte Victoria, während sie ihren Computer in der Tasche verstaute.
Michael, der Café-Besitzer, gab Briana ein Zeichen, wieder an die Arbeit zurückzukehren.
Sie erhob sich rasch. »Um ein Uhr mache ich Schluss, hast du Lust, danach noch die letzten Geschenke einkaufen zu gehen?«
Victoria überlegte kurz. Die Idee gefiel ihr. Mit den Recherchen war sie fertig, sie hatte nichts herausgefunden. Ein Einkaufsbummel mit der Freundin würde sie ein wenig ablenken. »Wohin wollen wir?«, fragte sie.
»Ins Selfridges ?«, schlug Briana vor.
»Lieber irgendwohin, wo es nicht so überfüllt ist. Vielleicht ins Beyond Retro? «
»Okay. Ich habe einen Mantel gesehen, der meiner Doktorin wunderbar stehen würde. Aber jetzt muss ich sausen.« Sie eilte davon, um an einem der hinteren Tische eine Bestellung entgegenzunehmen.
Eigentlich brauchte Victoria nicht sehr viele Geschenke zu kaufen. Für ihre Mutter hatte sie bereits ein Fläschchen von deren Lieblingsparfüm erstanden. Dann waren da noch die beiden Onkel und die GroÃeltern, denen man irgendetwas schenken konnte.
Nur an eine Person hatte sie noch nicht gedacht: Madame Iv. Würde sie sich über ein Weihnachtsgeschenk freuen? Und wenn ja, über was?
11
Moskau, Villa Derzhavin
Freitag, 24. Dezember, 12.21 Uhr
»Die ganze Nacht, Papa. Ich habe es alle halbe Stunde versucht. Aber es war nichts zu machen. Offenbar hatte die ISAF alle Frequenzen in Beschlag genommen.«
Ein Blitzschlag
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