Die Schwesternschaft
â¦Â«, rief Victoria erneut.
Diesmal hatte sie mehr Glück.
»Was gibtâs, meine Liebe?«, erwiderte die Frau, mit dem gewohnten Lächeln, das Victoria immer den Eindruck vermittelte, als wäre Raye mit den Gedanken bei einer ganz anderen Sache.
»Weshalb sind wir hier?«
»Magst du keine Museen? Sie sind so schön. Du solltest sie mögen«, erklärte Raye.
Victoria verlor allmählich die Geduld. »Mit Madame hab ich nie Derartiges unternommen. Ich verstehe einfach nicht, warum du mich hierhergebracht hast.«
Raye zog die Brille ab, die an einer bunten Kordel befestigt war, und lieà sie auf die Brust fallen. Zum ersten Mal nahm sie einen ernsten Gesichtsausdruck an. »Was siehst du hier?«, fragte sie und deutete auf den Schaukasten mit dem Pilz.
Victoria betrachtete ihn nochmals. Sie konnte nichts Aufregendes daran entdecken. »Tut mir leid, aber ich sehe bloà einen Pilz.«
Raye klappte das Heft zu und steckte es in die violette Jute-Umhängetasche.
»Komisch«, bemerkte sie, »dass dich der Anblick des gröÃten und ältesten Lebewesens der Welt gar nicht berührt.«
Victoria glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Das, was sie dort vor sich hatten, wirkte wie ein frischer, noch dazu vermutlich essbarer Pilz und nicht wie ein Fossil. Victoria mochte Pilze. Wegen ihrer schlanken Linie gönnte sie sich nur selten ein echtes englisches Frühstück, aber wenn sie es tat, durften â neben Eiern, Schinken und Bohnen â auf keinen Fall gebratene Pilze fehlen.
»Stell dir vor, du hättest die Kralle eines mindestens viertausend Jahre alten Geschöpfs vor dir«, sagte Raye.
»Dieser Pilz ist viertausend Jahre alt? Für mich sieht er aus wie frisch geerntet.«
»Dieser Pilz ist von einem neun Quadratkilometer groÃen Körper abgetrennt worden, und man hat herausgefunden, dass er dort, im Malheur National Forest, bereits existierte, bevor in Ãgypten die ersten Pyramiden errichtet wurden.«
Wieder hatte Victoria die Befürchtung, nicht richtig verstanden zu haben. Eine Fläche von neun Quadratkilometern, überlegte sie, entsprach mehr als der GröÃe eines Golfplatzes mit achtzehn Löchern. Nicht schlecht für einen Pilz. Aber obwohl sie diese Information beeindruckte, begriff sie noch immer nicht, was das Ganze mit ihrem Unterricht zu tun hatte.
»Ich sehe dir an, dass du aus alldem nicht schlau wirst«, bemerkte Raye ein wenig spöttisch. »Nun, ich habe Mitleid mit dir und werde sofort zur Sache kommen.«
Victoria seufzte erleichtert.
»Nimm dein Ogham-Ãbungsheft und sag mir, ob du irgendwo ein passendes Symbol zu der Baumrinde findest, auf der dieser Hallimasch wächst.«
Victoria schlug das Heft auf, das sie die ganze Zeit über in den Händen gehalten hatte, und begann zu suchen. Gleich unter dem ersten Buchstaben im Lied von Amergin fand sie ein Symbol, das an eine Tanne erinnerte.
Victoria zeigte es Raye, und sie antwortete mit einer knappen, zustimmenden Geste: »Sehr gut. Du hast dein erstes prosodisches Ogham-Zeichen gefunden. WeiÃt du auch, was es bedeutet?«
Victoria betrachtete erneut aufmerksam das Symbol. Madame Iv hatte ihr nie richtig den Sinn dieser Zeichen erklärt, da sie sie für noch nicht reif genug hielt, um sich eingehend damit zu befassen.
Raye half ihr aus der Verlegenheit und begann zu erzählen: »Als Attis, der phrygische Adonis und Sohn der Nana, von Zeus tödlich verletzt wurde, verwandelte ihn die Göttin Kybele, die ihn liebte, in eine Tanne. Das ist auch der Grund, weshalb das Trojanische Pferd, ein Friedensangebot an die Göttin Athene, aus Tannenholz gefertigt wurde. Siehst du, wie viel Geschichte darin steckt?«
»Raye, um ehrlich zu sein, ich verstehe immer noch nicht â¦Â« Victorias Bedauern war aufrichtig. Sie spürte, dass sie von dieser Frau vieles lernen konnte. Aber was?
Ohne zu wissen, wie ihr geschah, spürte Victoria plötzlich Rayes Hand auf ihrem Unterleib. Sie zuckte kurz zusammen, wich aber nicht zurück. Sie spürte die Wärme der Handfläche und merkte, wie sich, genau unter dem Zwerchfell, ganz sanft etwas zu weiten begann.
»Lass uns besingen die Landschaft«, begann Raye ihren Singsang, »die frische Luft zwischen den Blättern, die Hügel, Höhen und Berge, ja die Gebirgslandschaft, lass uns besingen die Jahreszeiten, den Herbst des Meeres,
Weitere Kostenlose Bücher