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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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führte sie in den kleinen Saal im Turm, den Gavril für sie reserviert hatte. Als sie den Tisch erreicht hatten, war Kirills Nervosität kaum noch zu übersehen. Er wartete, bis Nadja sich gesetzt hatte, und anstatt nun ihr gegenüber Platz zu nehmen, gab er den Kellnern ein Zeichen, den Raum zu verlassen, trat dann neben einen seiner Wachposten, der am Eingang Stellung bezogen hatte, und blieb dort in der klassischen Wartehaltung mit verschränkten Armen stehen. Nadja war darüber nicht verwundert: Offenbar wollte Kirill erst auf die Ankunft ihres Vaters warten. Aber vielleicht − und dieser Gedanke verletzte sie − hatte er auch keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten. Im Übrigen war er sicher nicht gerade dafür geschaffen, förmliche Konversationen zu führen.
    Endlich beschloss sie, ihn anzusprechen. »Alles unter Kontrolle?«, fragte sie mit lauter Stimme.
    Kirill sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand heimlich mithörte, und trat dann an den Tisch.
    Â»Ich fühle mich nicht wohl«, erwiderte er bloß.
    Sie sah ihn mit einem merkwürdigen Gefühl der Rührung an.
    Â»Kirill«, beruhigte sie ihn, »entspann dich, wenigstens für einen Abend.«
    Â»Es wäre nett, wenn du das mir überlassen könntest.«
    Nadja begann, mit dem Zeigefinger auf den Griff ihrer Gabel zu trommeln. Wenn das die Stimmung dieses Abends sein sollte, hätten sie besser daran getan, zu Hause zu bleiben. »Könntest du versuchen, die anderen Gäste deine Gegenwart nicht allzu sehr spüren zu lassen?«
    Â»Dein Vater hätte das ganze Restaurant reservieren lassen sollen«, bemerkte der Sibirier, während er zur Tür zurückging. »Dann wäre ich jetzt tatsächlich beruhigter.«
    Bei diesen Worten verfinsterte sich Nadjas Miene. Ihr Vater hatte das bereits mehr als einmal getan. Wie in einem Gangsterfilm, in dem Robert de Niro einen ganzen Saal mit Orchester reserviert, um mit Elizabeth McGovern zu Mittag zu essen. Im Übrigen war ihr Vater, obwohl er sich wie ein Geschäftsmann gab, letztlich nichts anderes als ein Boss.
    Das war der eigentliche Grund, weshalb sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fortgegangen war. Wann immer sie zu lange in Moskau blieb, fing sie an durchzudrehen. Mehr als einmal hatte sie sich geschworen, dass sie nach dem Tod des Vaters das Erbe nutzen würde, um eine humanitäre Stiftung zu gründen, eine Art Wiedergutmachung für all die Schäden, die Gavrils Geschäfte verursacht hatten. Aber es gab etwas, das sie beunruhigte: den Gefallen, den sie an Situationen wie dieser fand − Situationen, in denen die Ehrerbietung, die ihr jeder der Anwesenden entgegenbrachte, unmittelbar zu spüren war. Es gab da dieses Destillat der Macht, etwas, das ihr zwar verhasst war, dessen Faszination sie sich jedoch nur schwer entziehen konnte. Als hätte sie es in den Genen, eine Derzhavin zu sein. Ihre innere Zerrissenheit war derart groß, dass sie, um alldem zu entkommen, schließlich in Anabah gelandet war.
    Â»Bitte entschuldige mein Verhalten«, sagte Kirill, während er erneut an den Tisch trat. »Aber du musst mich meine Arbeit erledigen lassen.«
    Â»Wir können uns doch aber unterhalten, oder?«, entgegnete sie lächelnd, wobei sie spürte, dass die Anspannung ein wenig nachließ. »Wir sind ganz unter uns.«
    Â»Worüber willst du dich unterhalten?«
    Â»Ãœber dich: Wir haben uns so lange nicht gesehen. Du wirst doch sicher irgendwelche Neuigkeiten zu berichten haben.«
    Â»Nur Unerfreuliches.«
    Nadja begriff, dass ihn nichts von seiner Arbeit ablenken würde. Dann musste sie sich eben genau das zunutze machen. »Lass uns über die ›Arbeit‹ sprechen. Komm, setz dich.«
    Kirill zögerte, aber dann gab er ihrem Wunsch nach.
    Â»Sagt dir der Name Olga Twardowski etwas?«, fragte sie ernst.
    Kirill dachte einen Augenblick lang nach, dann schnaubte er: »Nein. Ich habe schon mit deinem Vater darüber gesprochen. Er sagt mir nichts.«
    Â»Was meinst du, weshalb dieser Bühnenprospekt so wichtig ist?«
    Eine schrille Stimme unterbrach ihre Unterhaltung: »Mademoiselle Nadja, wie lange ist es her! Welch Freude, Sie wiederzusehen!«
    Auf den drei Stufen, die in den kleinen Turmsaal hinabführten, war Dimitri aufgetaucht, der bekannte und renommierte Chef des Tsarskaya Okhota. Der von Kirill eingesetzte

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