Die Schwesternschaft
die Küste, den Klippenrand, die Wellen. Die Bäume, die hohen Bäume, die Bäume am Wegesrand, die Obstbäumchen.«
Rayes Stimme wurde beinahe zu einem Flüstern, ohne dass die Melodie dabei auch nur etwas von ihrem altertümlichen Charakter eingebüÃt hätte. Einige Besucher wandten sich ihnen zu, um die Szene zu beobachten. Doch Victoria brauchte sie nur anzusehen, dass sie wieder zu ihren Schaukästen zurückkehrten.
»Auch wenn sie brennen, so brennen die Zweige, die Kokospalmen, die Eiche, die Birke, die Buche, die Erle, die schmucken Zweige des Mäusedorn, die Bäume des Waldes, der Baum. Wenn dies ein Baum ist, so besinge ich ihn. So brenne ich.«
Während des gesamten Liedes hatte Victoria gespürt, wie ihr das Blut durch den Körper strömte. Sie hatte wahrgenommen, wie es, ausgehend von ihrer Brust, durch die Arme und wieder zurück, hinunter zu den Beinen, wieder hinauf bis zum Becken und darüber hinaus floss, um schlieÃlich zur Brust zurückzukehren und von neuem zu beginnen.
»Nun sprich das Ailm. Nimm den Baum wahr. Sei aufrecht, immergrün und nähre dich.«
Victoria lieà den Buchstaben Ailm ertönen, der im Ogham-Alphabet dem A entsprach: »Aaaaaaaaaa.«
»Ich muss es hören. Von wo kommt die Nahrung eines Baumes?«, ermunterte sie Raye.
Victoria fühlte sich unwohl, während sie hier, so mitten im Museum, diese Töne von sich gab. »Aus den Wurzeln«, antwortete sie schlieÃlich.
Raye schüttelte den Kopf: »Nein, von weiter oben.«
Victoria versuchte, sich einen Baum vorzustellen. Eine schlanke, in den Himmel ragende Kiefer. »Die Nahrung kommt von der Sonne.«
Raye nickte: »Wenn die erste Nahrung von der Sonne kommt, musst du das Wort aussprechen, indem du nach oben denkst, dich der Sonne zuwendest. Du musst sein, nicht handeln.«
Diesen Satz hatte sie bereits von Iv gehört. Sie war sich nun sicher, dass Madame sie in gute Hände gegeben hatte.
»Aaallllaaaaa â¦Â«, murmelte sie weiter, und ihr wurde bewusst, dass sie die Ls aussprach, als würden sie zu dem Buchstaben dazugehören.
Sie spürte, dass sich etwas verändert hatte. Sie spürte, dass Rayes Hand plötzlich kalt war, als habe ihr Leib ihr die gesamte Körperwärme entzogen.
Auch das Gesicht der Frau war blasser. Raye löste rasch ihre Hand und taumelte ein paar Schritte zurück.
Victoria begriff nicht, was geschehen war, aber mit dem letzten Ertönen des Buchstabens Ailm war eine Veränderung in ihr vorgegangen. Sie spürte ihre Handflächen brennen, als habe sie ein heiÃes Bügeleisen berührt.
Als Raye wieder Farbe bekam, kam sie auf sie zu und umarmte sie: »Mein Mädchen, ich hab doch gesagt, dass du eine kleine Hexe bist. Ich bin stolz auf dich.«
Victoria fühlte sich noch immer benommen. So wie das Brennen gekommen war, verschwand es auch wieder aus ihren Handflächen, und der Energiefluss, den sie in sich gespürt hatte, löste sich auf, hinterlieà in ihr ein Gefühl leichter Ermattung. »Was ist bloà geschehen?«, fragte sie beunruhigt.
Raye löste sich aus der Umarmung und begann, fröhlich wie ein kleines Kind, in die Hände zu klatschen. »Du hast dich zum ersten Mal in Einklang gebracht. Ich muss unbedingt, unbedingt, unbedingt dein Gesicht fotografieren.«
Sie zog eine Wegwerfkamera aus der Tasche und schoss ein Foto mit Blitzlicht. Victoria hatte einen Anflug von Schwindel, dann spürte sie, wie Raye nach ihrem Arm griff. »Das geht gleich vorbei, kleine Hexe. Sei unbesorgt. Sich das erste Mal in Einklang zu bringen ist wie der erste Schrei eines Neugeborenen.«
»Das alles wegen eines einzigen Buchstabens?«, fragte Victoria noch immer ziemlich mitgenommen. Sie konnte es einfach nicht glauben. Sie sah ihre neue Lehrerin an, und plötzlich hatte sie das unerklärliche Bedürfnis zu weinen. Sie lehnte sich an ihre Schulter, und ihre Tränen fielen auf dieses alberne, altmodische Patchworkkleid. Die Wolle duftete nach Basilikum und würzigen Kräutern, und sie hatte das Gefühl, sich an einen Strauch im Unterholz zu lehnen.
»Ich bin eine Träne, die von der Sonne fiel â¦Â«, flüsterte Raye ihr ins Ohr. »Nun wirst du das Lied von Amergin wirklich begreifen. Und wie du es begreifen wirst.« Dann nahm sie ihren Kopf zwischen die Hände und küsste sie auf die Stirn: »Das ist
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