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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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Wachposten hatte ihn ohne die übliche Durchsuchung vorbeigelassen, da er wusste, dass er nie und nimmer eine Bedrohung darstellen würde.
    Nadja erhob sich. Sie kannte Dimitri, seit sie ein kleines Mädchen war, er hatte sich im Lauf der Jahre kaum verändert. Hinter seinem stets freimütigen und aufmunternden Lächeln verbarg sich ein Naturell, das ganz dem des Chefs einer der angesehensten Küchen Russlands entsprach.
    Â»Beehrt uns Ihr Vater heute Abend nicht mit seiner Anwesenheit?«, fragte er.
    Nadja küsste ihn auf die Wange: »Papa müsste bald kommen.«
    Â»Ich habe wunderbaren Hirsch. In Heidelbeer-Sahne-Sauce. Was meinen Sie?«
    Nadja nickte. »Das hört sich gut an, aber Papa würde aus allen Wolken fallen, wenn ich einfach ohne ihn bestelle.«
    Dimitri wandte sich an Kirill. »Mister Rotchko!«, begrüßte er ihn herzlich.
    Nadja forderte Kirill mit einer Geste auf, die Begrüßung zu erwidern. Er erhob sich steif und reichte dem Restaurantchef die Hand, ohne dabei sein Unbehagen verbergen zu können.
    Â»Mein lieber Dimitri«, erklärte Nadja, »du musst Kirill entschuldigen, er liebt das mondäne Leben nicht sonderlich.«
    Â»Kein Problem«, beeilte sich der Chef zu versichern. »Speisen auch Sie heute Abend, Mister Rotchko? Soll ich noch ein Gedeck bringen lassen?«
    Â»Nein …«
    Â»Doch«, korrigierte ihn Nadja. »Er wird mit uns essen.«
    Dimitri verabschiedete sich, ohne etwas hinzuzufügen.
    Als sie wieder saßen, erklärte der Sibirier: »Ich kann nicht mitessen.«
    Â»Es ist ganz einfach, du nimmst die Gabel, pikst das Essen auf und steckst es in den Mund.«
    Â»Du bist wirklich die Tochter deines Vaters …«, schmunzelte Kirill.
    In diesem Augenblick kam ein Kellner und brachte das dritte Gedeck. Nadja sah auf die Uhr. Ihr Vater verspätete sich, das war nicht seine Art. Der Sibirier sah ihr an, dass sie in Sorge war, und versuchte, sie abzulenken. »Bist du sicher, dass du dir den richtigen Tischgenossen gewählt hast?«
    Â»Absolut. Ich möchte, dass du heute Abend mit uns isst. Dann bin ich wenigstens nicht die Einzige, die sich unwohl fühlt. Denn um ehrlich zu sein, bin ich nicht hergekommen, um mich mit Papa in der Gesellschaft blicken zu lassen.«
    Kirills Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an: »Dein Vater hängt sehr an dir. Die Art, wie er dich bei deiner Ankunft angeschaut hat, ist ein ganz besonderes, allein dir vorbehaltenes Privileg. Niemandem sonst kommt diese Ehre zu. Dein Vater würde notfalls sein Leben für dich opfern. Vergiss das nicht.«
    Nadja starrte stumm auf die Jagdtrophäen an den Wänden.
    Plötzlich hob der Sibirier die Hand ans Ohr und lauschte.
    Nadja entging nicht die verärgerte Geste am Ende der Nachricht. »Was ist los?«, fragte sie.
    Â»Wir müssen sofort nach Hause«, war die einzige Antwort, die ihr Kirill zuraunte.
    Â»Aber weshalb?«
    Â»Ich erkläre dir alles im Auto.«
    Â»Ist Papa etwas zugestoßen?«
    Kirill antwortete lediglich mit einer leichten Bewegung des Unterkiefers.
    Nadja sprang auf. »Ich befehle dir, mir zu sagen, was vor sich geht!«, schrie sie außer sich.
    Â»Dein Vater ist vergiftet worden«, erwiderte der Sibirier schließlich.

31
    London, Naturkundemuseum
Dienstag, 28. Dezember, 16.50 Uhr
    Victoria und Raye standen vor einem etwa faustgroßen Pilz. Ein unscheinbarer, bräunlicher Pilz auf einem Rindenstück, aus dem ein paar Tannenzweige sprossen.
    Victoria las die Erklärungen auf der Tafel neben dem Schaukasten: Armillaria ostoyae − Dunkler Hallimasch. Herkunft: Malheur National Forest, Oregon, USA . Und darunter: »Das größte Lebewesen der Erde.«
    Victoria begriff nicht. Der Pilz, den sie dort sah, erschien ihr nicht gerade groß. Doch Raye war offenbar ganz hingerissen. Sie zeichnete den Pilz in ein altes Heft voller Skizzen und Notizen, die in einer unleserlichen, an Stenografie erinnernden Schrift geschrieben waren. Sie trug eine fuchsienrote Kunststoffbrille, die ihre exzentrische, extravagante Erscheinung betonte.
    Â»Warum schauen wir uns diesen … Pilz an?«, fragte Victoria leise, um die anderen Besucher, größtenteils ausländische Touristen, nicht zu stören.
    Raye schenkte ihr keine Beachtung. Mit der Genauigkeit einer Mykologin war sie damit beschäftigt, den Pilz auf dem Papier zu verewigen.
    Â»Raye

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