Die Schwingen des Todes
beißende Kälte in seinem Gesicht. Als er ein Taxi sah, winkte er es heran. Doch dann wurde ihm plötzlich klar, dass er überhaupt nicht wusste, wohin er wollte.
Der Fall war festgefahren, und es gab keine neuen Spuren -was hielt ihn also noch hier in Manhattan? Und dennoch, genau wie Rina prophezeit hatte, widerstrebte es ihm, die Sache einfach hinzuschmeißen. Warum benahmen die Liebers sich ihm gegenüber plötzlich so feindselig? War es der ständig zunehmende Stress oder wurde ihnen langsam bewusst, dass auch Decker keine Wunder vollbringen konnte? Ein echter Profi wäre wieder nach Quinton gefahren und hätte die Familie zur Kooperation gezwungen. Aber genau da lag das Problem: Die Liebers gehörten zur Familie. Und da die Beziehung zu seinem Halbbruder noch nicht sehr gefestigt war, wollte Decker das s ensible Vertrauensverhältnis, dessen Aufbau zehn Jahre gedauert hatte, nicht gefährden.
Langsam gingen ihm die Alternativen aus, aber er verfügte noch immer über eine Karte, auf die er setzen konnte. Da er sowieso in Manhattan war, würde er Leon Hershfield einen Besuch abstatten. Der Anwalt beschäftigte sich mit einem Fall, der überall in den Medien Beachtung fand, und da Hershfield am Samstag nicht arbeiten konnte, lag es für Decker nahe, dass er ihn mit großer Wahrscheinlichkeit am Sonntag in seiner Kanzlei antreffen würde.
Er nannte dem Taxifahrer die Adresse auf der Fifth Avenue und rief Hershfield auf seinem Mobiltelefon an. Der Anwalt schien nicht gerade begeistert, Deckers Stimme zu hören, aber er war klug genug, auf seinen Wunsch einzugehen. Zwanzig Minuten später öffnete Hershfield ihm die Tür zu seinem Büro, wie immer tadellos gekleidet - dieses Mal sportlich, mit einem Kamelhaarsakko, grauer Hose, einem weißen Hemd und roter Krawatte. Nicht der übliche Brioni- oder Kiton-Anzug, aber immer noch angemessen für einen millionenschweren, prominenten Anwalt.
»Dem Rastlosen schlägt keine Stunde«, sagte er, als er die Tür hinter Decker schloss. »Setzen Sie sich. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Nein, danke.«
Nach einem schnellen Blick auf seine teure goldene Armbanduhr meinte er: »Wir haben beinahe Mittag. Wie wär's mit einem Essen? Ich wollte mir gerade etwas bestellen. Der Broughder-Fall ist ziemlich zeitaufwändig. Wer hat heute überhaupt noch Zeit auszugehen? Aber es würde mich freuen, wenn ich Ihnen ein Sandwich oder einen Bagel bestellen könnte.«
Decker lächelte. Hershfield hatte soeben mehrere versteckte Botschaften an ihn gesandt: Ich bin ein viel beschäftigter Mann , ich habe Verpflichtungen und stehe unter Zeitdruck. Und jetzt kommen Sie auch noch daher. Ich hab auf meine Uhr geschaut. Ich stoppe Ihre Zeit.
»Nein, vielen Dank. Ich wollte Sie nur ganz kurz stören. Vielen Dank, dass Sie sich überhaupt Zeit für mich nehmen.«
Botschaft angekommen, und zwar laut und deutlich.
Hershfield lehnte sich in seinem Bürosessel zurück. »Und, wie geht's Ihnen?«
»Ich hab mich schon mal besser gefühlt.«
»Der Jetlag?«
»Natürlich spielt das auch eine Rolle.« Schweigen.
»Machen Sie zufriedenstellende Fortschritte?« »Nein.«
»Das tut mir Leid.«
»Das ist zum Teil der Tatsache zuzuschreiben, dass ich im Dunkeln tappe.« Decker leckte sich die Lippen. »Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, nicht sehr erwünscht zu sein.«
»Polizisten verteidigen ihr Territorium.«
»Ich meinte nicht die Polizei, Mr. Hershfield, sondern Ihre Klienten. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es gewissen Leuten Leid tut, dass ich da hineingezogen worden bin. Der Himmel weiß, warum sie mich überhaupt angerufen haben.«
»Anfängliche Panik?« »Möglicherweise.«
»Dann wäre es vielleicht das Beste, sich zu verabschieden.«
Die Geschwindigkeit, mit der Hershfield reagierte, machte Decker nachdenklich. Wahrscheinlich hatten die Liebers Kontakt mit Hershfield aufgenommen und ihn vielleicht sogar gebeten, ihnen Decker vom Hals zu schaffen. »Obwohl ich auch sagen muss«, entgegnete Decker, »dass es mir schwer fällt, die Angelegenheit nicht weiterzuverfolgen. Ich habe diesen... meine Tochter sagt, man bezeichnet es als >Zygarnic-Effekt<. Es ist eine Art krankhaftes Verlangen danach, Dinge zu Ende zu bringen. Zumindest behauptet das meine Tochter.« »Kinder lieben es, ihre Eltern zu kategorisieren.«
»Meine Frau sagt etwas Ähnliches. Es muss also ein Körnchen Wahrheit darin stecken.«
»Mag sein. Aber wenn es sich um ein krankhaftes Verlangen handelt,
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