Die Schwingen des Todes
Decker wusste, dass dieser Staat auch prachtvolle und wohlhabende Regionen besaß, aber diese Gegend hier zählte eindeutig nicht dazu. Beseitigte die Mafia im Fernsehen ihre Leichen nicht immer irgendwo in New Jersey? War das der Grund, warum Do natti diesen Ort ausgewählt hatte? Hatte er hier schon mal eine Leiche entsorgt?
In der Ferne lärmte plötzlich irgendetwas laut los - etwas, das sich fortbewegte. Durch den Dopplereffekt schwoll das Geräusch erst an und nahm anschließend wieder ab. Danach hörte er ein paar Tierschreie - eine Eule? Und dann war es plötzlich wieder vollkommen ruhig. Eine unheimliche Stille erfüllte die Luft, die unangenehmer war als jedes Knacken und Knirschen.
Und wenn Donatti gar nicht auftauchte? Dann war's das eben gewesen.
Diese Möglichkeit gefiel Decker gar nicht mal so schlecht, jedenfalls besser, als sich hier am Arsch der Welt die Eier abzufrieren. Ständig blickte er sich um, damit ihm nicht irgendein durchgeknallter Punk, der gerade nichts Besseres zu tun hatte, von hinten eins über den Schädel zog.
Ein Teil von Decker hoffte fast, dass C.D. sich wie früher als pathologischer Lügner erweisen und ihn attackieren würde. Donatti war ein seltsamer Vogel: nicht bösartig um der Bösartigkeit willen, sondern selbstsüchtig und ohne jede Moral -ein skrupelloser Hurensohn, der miese Dinger drehte. Und das machte seine nächsten Schritte noch schwerer vorhersehbar. Ein bösartiger Mensch stahl, vergewaltigte und tötete allein für den Kick, aus reiner Lust, während ein amoralischer Mensch wie Donatti zwar kein Problem mit Mord und Totschlag hatte, aber darin keinen Lustgewinn fand. Er war zwar jederzeit dazu in der Lage, aber nur, wenn es in seinem Interesse lag.
Doch was lag in Donattis Interesse?
Decker holte eine kleine Flasche Whisky aus der Tasche und nahm einen großen Schluck. Zum Abendessen hatte er ein fades vegetarisches Sandwich mit altbackenem Brot gehabt -sozusagen als Buße für das viele Fleisch am Abend zuvor. Er hatte seinem Magen etwas Gutes tun wollen; stattdessen lag ihm die »leichte Mahlzeit« nun wie ein Stein im Magen.
Noch ein Schluck Chivas, um die Nerven zu beruhigen. Decker hatte völlig die Orientierung verloren; er kam sich vor wie eine leichte Beute. Warum zum Teufel war er nicht wenigstens auf Donattis Angebot mit der Kanone eingegangen? Aber selbst das hätte ein Trick sein können.
Wenn du die Kanone nimmst, habe ich einen Grund, dich zu erschießen.
Bei C.D. konnte Decker einfach nie sagen, woran er war. Donatti hatte davon gesprochen, dass Decker jetzt alles schlucken müsste, so wie er zuvor acht Jahre lang hatte schlucken müssen. Handelte es sich bei diesem Treffen um eine Inszenierung? Ging es in Wahrheit nur um einen letzten Akt eines Racheplans, der jahrelang in einem grausamen Geist geschlummert und darauf gewartet hatte, ausgeführt zu werden?
Viertel nach elf.
Decker nahm noch einen Schluck.
Weitere fünfzehn Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken, und er spürte, wie seine Zehen langsam taub wurden.
Er würde bis zur Geisterstunde warten. Danach.. wäre es das eben gewesen.
Fünf Minuten vor Mitternacht sah Decker etwas, einen Schatten, der sich langsam näherte. Kein Auto weit und breit; Decker hatte noch nicht einmal entfernte Motorgeräusche gehört. Er fragte sich, wie der Schatten so leise so nah herankommen konnte. Hatte er sich angeschlichen, oder waren Deckers Sinne so abgelenkt gewesen, dass sie jeden Lärm ausblendeten?
Ein Adrenalinstoß jagte durch seinen Körper, als er sich herunterbeugte und nach dem Radschlüssel griff - kalt und schwer in seiner Hand. Langsam nahm der Schatten Gestalt an, und aus dem Nebel tauchten die Umrisse Donattis auf. Er trug einen Wollmantel, Handschuhe und zog eine Art Paket hinter sich her, ein schmales, zerbrechliches Wesen in einem viel zu großen Mantel. Seine Hände steckten in Wollfäustlingen, die jedoch Öffnungen für die Fingerspitzen hatten. Neben Donattis wuchtiger Gestalt wirkte es wie ein Kleinkind. Selbst aus dieser Entfernung konnte Decker erkennen, dass es weinte, schluchzend etwas zu Donatti sagte, ihn anflehte.
»Bitte schicken Sie mich nicht zurück.« »Niemand schickt dich zurück.« »Ich will nicht mit ihm reden..« »Er will dich nur sehen..«
»Nein, bitte nicht!« Sie umklammerte Chris' Arm; ihre Finger krallten sich in den Wollstoff des Mantels. Donatti zerrte sie weiter in Deckers Richtung, der
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