Die See Der Abenteuer
du nicht willst.«
Der auffallend hagere Mann stieg die großen Stufen zu dem Felseinschnitt empor. Er war mit einem Pullover und Shorts bekleidet, aus denen ein Paar lange, dürre Beine hervorstaken. Die Augen waren hinter dunklen Brillengläsern verborgen. Darüber wölbte sich eine hohe Stirn. Er trug einen kleinen, dünnen Schnurrbart und war rot von der Sonne aufgebrannt, so daß sich die Haut schälte. Eigentlich sah er nicht zum Fürchten aus, fand Jack.
»Hallo, hallo«, sagte der Mann, als er sich den Kindern näherte. »Ich war sehr erstaunt, daß sich Menschen auf dieser Insel befinden.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?« fragte Jack sofort.
»Ach, niemand. Aber ich sah doch euer Feuer. Was macht ihr denn hier? Befindet sich auf der Insel ein Lager?«
»Kann sein«, sagte Jack unbestimmt. »Warum sind Sie hierher gekommen?«
»Ich bin Ornithologe«, antwortete der Mann mit wichtiger Miene. »Du weißt wohl nicht, was das ist?«
Jack grinste in sich hinein. Ausgerechnet er, der sich selbst für einen guten Ornithologen hielt, sollte das nicht wissen. Aber er ließ sich nichts anmerken.
»Orni — Orni — Ornibologe?« stotterte er, als hörte er das Wort zum erstenmal. »Was ist denn das?«
»Das ist jemand, der das Leben der Vögel studiert«, antwortete der Mann. »Ein Vogelliebhaber, der alles über die Eigenarten der verschiedenen Vögel in Erfahrung zu bringen versucht.«
»Sie sind also hierher gekommen, um Vögel zu beobachten?« fragte Lucy, um sich auch ein wenig an der Unterhaltung zu beteiligen. Ihre Knie waren nicht mehr weich. Der Mann sah ja keineswegs fürchterlich aus.
»Ja. Ich bin schon früher einmal hier gewesen, und zwar vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war.« Der Mann lächelte. »Ich wollte die Insel gern wiedersehen. Und als ich näher kam, bemerkte ich zu meiner Überraschung eine Rauchsäule. Was hat das zu bedeuten? Ihr spielt wohl Schiffbrüchige? Ich weiß, wie Kinder in eurem Alter sind.«
So sah der Mann nun keineswegs aus. Auch schien er Jack und Lucy für bedeutend jünger zu halten, als sie waren. Gleich wird er uns ‘Häuschen klein’ vorsingen, dachte Jack innerlich grinsend. »Wissen Sie viel von Vögeln?« fragte er laut, ohne die Frage des Mannes zu beantworten.
»Von Seevögeln weiß ich nicht besonders viel«, bekannte der Mann. »Deshalb bin ich auch zu den Inseln gefahren. Über andere Vögel weiß ich besser Bescheid.«
Aha! dachte Jack. Das sagte der Mann natürlich nur, damit die Kinder ihm keine unbequemen Fragen über die Vögel auf der Insel stellten.
»Wir haben zwei zahme Lunde«, warf Lucy plötzlich ein.
»Wollen Sie sie sehen?«
»Oh, sehr gern, mein Kind.« Der Mann sah Lucy freundlich an. »Übrigens — mein Name ist Stentzlein — Theobald Stentzlein.«
»Stelzbein?« kicherte Lucy. Der Name paßte ja glänzend zu diesem hageren Menschen, der so komisch ein-herstelzte. Jack verbiß ein Lachen.
»Nein — Stentzlein«, verbesserte Theobald lächelnd.
»Und wie heißt du?«
»Ich heiße Lucy. Und mein Bruder heißt Jack. Wollen Sie die Lunde sehen? Dann müssen wir hier gehen.«
»Mit wem seid ihr denn eigentlich hier?« fragte Herr Stentzlein. »Ich möchte die Herrschaften auch gern be-grüßen. Und wo ist euer Boot?«
»Es ist bei dem Sturm zerschellt«, erwiderte Jack ernst.
»Das ist ja furchtbar! Wie wollt ihr denn nun nach Hause kommen?« Stentzlein sah die Kinder teilnahmsvoll an.
»Vorsicht!« Jack zog ihn am Ärmel, da er fast in eine Lundehöhle gestolpert wäre. »Geben Sie acht, wo Sie hintreten. Hier ist alles von Lunden unterhöhlt.«
»Himmel, was für eine Menge Vögel!« Überwältigt blieb Theobald Stentzlein stehen. Er war so vertieft in die Unterhaltung mit den Kindern gewesen, daß er die riesige Lundekolonie erst jetzt bemerkte. Auch das sprach in Jacks Augen gegen den Mann. Ein richtiger Ornithologe wäre doch nicht teilnahmslos mitten durch die Lunde hin-durchgegangen, sondern hätte gleich bei ihrem Anblick Freudenrufe ausgestoßen.
»Erstaunlich, wirklich erstaunlich!« rief Theobald nun.
»Noch nie im Leben habe ich so viele Vögel beisammen gesehen. Und ihr habt wirklich zwei zahme Lunde? Das ist ja kaum zu glauben.«
»Sie gehören Philipp«, sagte Lucy — und hätte sich am liebsten gleich darauf die Zunge abgebissen.
»Ich denke, dein Bruder heißt Jack?« Theobald sah das Mädchen fragend an.
»Das muß eine Verwechslung sein«, stieß Jack hervor, dem nichts
Weitere Kostenlose Bücher