Die Seele des Feuers - 10
Säuberungswellen gegen die Gebildeten. Im Verlauf dieser Aufstände und dieses Zustandes der Gesetzlosigkeit wurde die gesamte herrschende Klasse der Hakenier systematisch umgebracht. Jeder Hakenier, der über irgendwelche höheren Qualifikationen verfügte, war verdächtig und wurde hingerichtet.
In kurzer Zeit hatten die Anderier, sei es auf finanziellem Weg oder durch den Pöbel, jedes noch verbliebene Geschäft und Unternehmen in den Ruin geführt.
In diesem Vakuum ergriffen die Anderier die Macht und schufen Ordnung – mit Lebensmitteln für ein verhungerndes Volk, das aus Anderiern und Hakeniern gleichermaßen bestand. Als sich der Staub legte, hatten die Anderier die Kontrolle über das Land an sich gerissen, und dank der starken Söldnerstreitkräfte, die anzuheuern sie sich leisten konnten, hielten sie das Land bald darauf in eisernem Griff.«
Richard hatte zu essen aufgehört. Er konnte kaum glauben, was er hörte, und blickte wie erstarrt vor sich hin, während Kahlan mit ausholenden Handbewegungen den Niedergang der Vernunft schilderte.
»Die Anderier stellten alles auf den Kopf, aus Schwarz wurde Weiß und umgekehrt. Sie verkündeten, Hakenier seien aufgrund der uralten hakenischen Tradition des Unrechts gegenüber den Anderiern nicht imstande, einen Anderier gerecht zu beurteilen. Die Anderier dagegen beteuerten, sie hätten, da sie so lange Opfer der gottlosen hakenischen Oberherren gewesen seien, das Wesen der Ungleichheit verstanden und seien demzufolge als einzige berechtigt, in Fragen der Gerechtigkeit zu entscheiden.
Schreckliche Geschichten hakenischer Grausamkeit wurden zur Währung gesellschaftlicher Geltungssucht. In dem Versuch, die entsetzlichen Vorwürfe zu entkräften, und um zu verhindern, von den gut bewaffneten Truppen selektiert zu werden, unterwarfen sich verängstigte Hakenier bereitwillig der anderischen Autorität und den erbarmungslosen Söldnern. Die Anderier, die so lange auf Macht hatten verzichten müssen, nutzten ihren Vorteil gnadenlos aus. Hakeniern wurde verboten, Machtpositionen zu bekleiden. Wahrscheinlich, weil die hakenischen Oberherren von den Anderiern verlangt hatten, sie mit Nachnamen anzureden, wurde den Hakeniern nach einer Weile das Recht auf einen Nachnamen verweigert, es sei denn, sie erwiesen sich als würdig und erhielten eine besondere Erlaubnis.«
»Aber haben sie sich denn nicht vermischt?« fragte Richard. »Haben die Hakenier und Anderier nach all diesen Jahren nicht untereinander geheiratet?«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Die Anderier, ein großgewachsenes, dunkelhaariges Volk, hielten es von Anfang an für ein Verbrechen gegen den Schöpfer, die rothaarigen Hakenier zu ehelichen. Sie waren überzeugt, der Schöpfer habe in seiner Weisheit die Menschen unterschiedlich erschaffen. Sie glaubten nicht daran, daß die Menschen sich mischen sollten wie Vieh, dem eine neue Eigenschaft angezüchtet werden soll – wie die Hakenier dies getan hatten. Ich will nicht behaupten, daß es nicht gelegentlich vorkam, aber bis zum heutigen Tag ist dergleichen überaus selten.«
Richard rollte seinen letzten Bissen Tava mit Hafergrütze zusammen. »Und wie ist es jetzt dort?« Er schob sich den Bissen in den Mund.
»Da nur die mit den Füßen Getretenen – die Anderier – unbescholten sein können, eben weil sie unterdrückt werden, dürfen auch nur sie herrschen. Sie lehren, die hakenische Unterdrückung dauere bis zum heutigen Tag an. Schon der Blick eines Hakeniers kann als Ausdruck des Hasses gewertet werden. Hakenier dagegen können niemals unterdrückt und damit unbescholten sein, da sie von Natur aus korrupt sind. Zur Zeit ist es gegen das Gesetz, daß Hakenier lesen lernen, aus Angst, sie könnten abermals die Herrschaft an sich reißen und das Volk der Anderier weiterhin brutal behandeln und massakrieren – so sicher wie auf den Tag die Nacht folgt, um es mit ihren Worten auszudrücken. Man verlangt von den Hakeniern, daß sie Bußversammlungen genannte Schulungen besuchen, um sie bei der Stange zu halten. Die Vorherrschaft der Anderier über die Hakenier ist zur Zeit völlig durchorganisiert und in Gesetzen festgelegt.
Vergiß bitte nicht, Richard, die Geschichte, wie ich sie dir jetzt erzähle, wurde mir von den Zauberern beigebracht. Was die Anderier lehren, ist etwas vollkommen anderes. Sie lehren, sie seien ein unterdrücktes Volk gewesen, das nach jahrhundertelanger Unterdrückung aufgrund seines höheren Wesens einmal mehr seine
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