Die Seele des Feuers - 10
niemals anlügen. Nicht, wenn es um etwas so Wichtiges wie Geschichte ging.
»Die Zeit ist bereits fortgeschritten«, meinte Meister Spink, nachdem jeder den Namen eines Kindes aufgesagt hatte, »daher werden wir uns die Geschichte über die Verbrechen dieser hakenischen Eindringlinge an den Frauen für die nächste Versammlung aufsparen. Vielleicht war es für die Kinder ein Glück, dass sie die Perversitäten, für die ihre Mütter von den Hakeniern missbraucht wurden, nicht mit ansehen mussten.«
Als sie entlassen wurden, stürzte Snip, gefolgt von den Übrigen der Gruppe, durch die Tür, froh, der Bußversammlung für diesen Abend entkommen zu können. Noch nie war ihm die kühle Nachtluft so angenehm erschienen. Ihm wurde heiß und übel, als ihm die Bilder des Todes, den die Kinder hatten erleiden müssen, immer wieder aufs Neue durch den Kopf gingen. Wenigstens war die kühle Luft auf seinem Gesicht angenehm; er sog die kühle, reinigende Luft in seine Lungen.
Während er an einen schlanken Ahornbaum gelehnt darauf wartete, dass ihn seine Beine wieder trugen, trat Beata aus der Tür. Snip richtete sich auf. Durch die offene Tür und die Fenster fiel genug Licht, sie würde keine Mühe haben, ihn zu finden – in seiner neuen Botenkleidung. Er hoffte, Beata würde sie besser gefallen als Meister Spink.
»‘nabend, Beata.«
Sie blieb stehen. Seine Kleidung musternd, betrachtete sie ihn von Kopf bis Fuß.
»Snip.«
»Du siehst sehr hübsch aus heute Abend, Beata.«
»Ich sehe aus wie immer.« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wie ich sehe, läufst du jetzt selbstverliebt in einer schicken Uniform herum.«
Snips Fähigkeit zu sprechen oder zu denken war mit einem Schlag dahin. Ihm hatten die Boten in ihren Uniformen immer gefallen, daher hatte er von ihr das Gleiche angenommen. Er hatte gehofft, sie würde vielleicht wenigstens lächeln. Stattdessen funkelte sie ihn wütend an. Plötzlich wünschte er sich mehr als alles andere, er wäre sofort nach Hause gegangen.
»Meister Dalton hat mir eine Stellung angeboten…«
»Und vermutlich freust du dich auch schon auf die nächste Bußversammlung, damit du dir anhören kannst, was diese hakenischen Bestien mit den hilflosen Frauen angestellt haben.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Das wird dir gefallen. Es wird dir fast genauso viel Spaß machen, als wärst du selbst dabei gewesen und hättest zugesehen.«
Snip blieb offenen Mundes zurück, während sie aufgebracht davonstürmte, hinein in die Dunkelheit.
Passanten auf der Straße hatten mitbekommen, wie sie ihm, einem dreckigen Hakenier, die Meinung gesagt harre. Sie setzten ein zufriedenes Lächeln auf oder lachten ihn einfach aus. Snip stopfte seine Hände in die Taschen, kehrte der Straße den Rücken zu und lehnte sich mit der Schulter an den Baum. Düsteren Gedanken nachhängend wartete er, bis alle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und weitergingen.
Der Fußweg zurück zum Anwesen dauerte eine Stunde. Er wollte sichergehen, dass alle, die dorthin zurückkehrten, vorgegangen waren, damit er für sich bleiben konnte und sich mit niemandem zu unterhalten brauchte. Er spielte mit dem Gedanken, sich etwas zu trinken zu kaufen. Er hatte noch immer etwas Geld übrig. Oder aber er konnte umkehren und Morley suchen, um sich anschließend mit ihm zusammen etwas zu trinken zu besorgen. Wie auch immer, sich zu betrinken schien ihm eine gute Idee.
Plötzlich wurde der Wind kühler. Ein Frösteln kroch ihm den Rücken hoch.
Fast wäre er aus den Stiefeln gefahren, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er wirbelte herum und erblickte eine ältere Anderierin. Ihr nach hinten gebürstetes, fast schulterlanges Haar verriet ihm, dass es sich um eine wichtige Persönlichkeit handelte. Graue Strähnen an den Schläfen sagten ihm, sie war alt; es war nicht hell genug, um zu erkennen, wie runzlig sie tatsächlich war, doch dass sie es war, war nicht zu übersehen.
Snip verbeugte sich vor der Anderierin. Er befürchtete, sie könnte dort weitermachen wollen, wo Beata aufgehört hatte, und ihn wegen irgendeiner Geschichte zur Rede stellen.
»Magst du dieses Mädchen?«, erkundigte sich die Frau.
Die seltsame Frage erwischte Snip in einem unbedachten Augenblick. »Ich weiß nicht«, stammelte er.
»Sie war ziemlich grob zu dir.«
»Ich hab es verdient, Ma’am.«
»Warum denn das?«
Snip zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht.«
Er wusste nicht recht, was die Frau von ihm wollte.
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