Die Seele des Ozeans (German Edition)
und heute Morgen erst wieder aufgewacht.“
„Du entschuldigst dich dafür, dass du geschlafen hast?“
„Kjell!“ Sie verpasste ihm einen entrüsteten Schlag gegen die Schulter. In ihrem Kopf zischte und brodelte es wie in einem Hochdruckkessel, während er einfach neben ihr herging und plötzlich beherrschter war als sie selbst.
„Du weißt wirklich nicht, worauf ich hinaus will, oder?“
„Ich glaube schon.“ Jetzt erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Ihre mühsam niedergerungene Fantasie erwachte zu neuem Leben. Wenn sie jetzt allein wären, oben im Dachzimmer … zwischen Decken und Kissen und …
„Du hattest nicht vor, zu schlafen“, erkannte er treffsicher.
„Nein“, knurrte sie. „Hatte ich nicht.“
„Das, was du tun wolltest, läuft uns nicht weg.“ Sein Blick glitt über ihren Körper, so unverhohlen verlangend und zugleich so unschuldig, dass sie die nächsten Schritte kaum spürte. Da war es wieder, dieses sphärische Schweben. Diese prickelnde Wärme in jedem einzelnen Nervenende, die jeden klaren Gedanken vernebelte wie der Rauch aus Alexanders Zimmer.
Sie verließen die ruhigen Straßen und glitten in einen Strom aus Menschen hinein. Der Druck seiner Hand wurde stärker, und manchmal, wenn ihn jemand im Vorbeigehen streifte, musste Fae die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen.
Obwohl sie seine Angst spürte, schreckte er vor nichts zurück. Nicht vor dem Lärm und dem Chaos der Hauptstraßen, auf denen der Verkehr tobte. Nicht vor den Menschenmassen, von denen sie hin und wieder wie von einem großen Fischschwarm eingehüllt wurden. Das einzige Zeichen seiner Nervosität war das Zucken seiner Hand und hin und wieder eine ruckhafte Bewegung, wenn ihn irgendetwas überraschte.
Entweder war er ein begnadeter Schauspieler, oder seine Anpassungsfähigkeit war unübertrefflich. Vielleicht war es für jemanden wie ihn eine lebensnotwendige Fähigkeit, sich schnellstmöglich in ungewohnte Muster einzufügen. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass Kjell völlig unvorbereitet mit einer Welt zurechtkommen musste, in der alles anders war, als er es kannte.
Unablässig huschte sein Blick hin und her. Er betrachtete mit kindlichem Staunen die Kathedrale St. Anne’s, das Schloss auf dem Cavehill, die herrlichen Verzierungen an der Fassade des legendären Crown Liquor Saloon und die Queens University mit ihren altehrwürdigen Gebäuden aus der Tudor-Zeit.
Als sie den weltberühmten botanischen Garten der Universität betraten, war Kjells Verblüffung grenzenlos. Der Druck seiner Hand wurde schwächer, bis er sie nur noch locker umfangen hielt. Und schließlich, während er an den unzähligen Blüten roch und die exotischen Pflanzen mit dem Interesse eines Forschers untersuchte, ließ er sie ganz los.
Fae setzte sich auf eine Bank im Schatten eines bizarr verwachsenen Baumes und atmete mit geschlossenen Augen die duftgeschwängerte, feuchtwarme Luft ein. Es währte nicht lange, bis Arme sie umfingen und hochzogen, sie an einen warmen, festen Körper drückte und …
Oh Himmel!
Er küsste sie, stürmisch und wie losgelöst, drückte sie gegen die Rinde des Baumes und hielt sie fest gepackt. Sein Atem wurde schwerer und schneller, sein Geschmack wilder und salziger, als triebe das Verlangen, das ihn spürbar überwältigte, jede Essenz des Meeres aus ihm heraus. Ihre Zungenspitzen berührten sich, sein Atem vermischte sich mit ihrem. Fae fühlte sich wie in jener Nacht, als die Sturmwellen mit ihr spielten, sie in die Tiefe rissen und spüren ließen, wie schwach sie war. Aber diese Schwäche fühlte sich herrlich an. Sie war befreiend, schwerelos, überwältigend. Ihre Knie gaben nach. Sie ließ sich fallen, trieb davon …
… und wusste kaum, wie sie aus dem Garten herausgekommen war. Regen traf ihr Gesicht. Der Himmel über ihr hing voller finsterer Wolkenberge. Fae hob ihre Hand und wischte die zarten Tropfen von Kjells Wange, dann griff sie in seinen Nacken und küsste ihn erneut. Nur zart diesmal, und nur solange, bis sie spürte, wie der Sog sie erneut packen wollte. Menschen rempelten sie an. Jemand schrie ohrenbetäubend schrill in sein Handy.
„Heute Nacht“, hörte sie sich flüstern.
Und Kjell antwortete, indem er mit einem tiefen Seufzen den Kopf senkte und ihren Hals küsste.
Nach einem Augenblick, der in seiner Kürze doch endlos zu dauern schien, lösten sie sich voneinander, folgten dem Strom und bewegten sich auf ihr Ziel
Weitere Kostenlose Bücher