Die Seele des Ozeans (German Edition)
zwei Nächte konnte ich es geheimhalten, in der dritten Nacht fand mein Vater es und nahm es mir weg.“
Kjells Gesicht wurde hart und frostig. In seinen Augen funkelte blanker Hass, vermischt mit der Angst davor, sich zu erinnern.
„Er hat dich bestraft, oder?“ Fae strich zärtlich über seinen Unterarm. Könnte sie ihn doch nur alles Dunkle und Schmerzhafte vergessen lassen.
„Ja.“ Er holte tief Atem. „Und in dieser Nacht war es besonders schlimm. Mein Vater erkannte, dass er langsam die Kontrolle über mich verlor, also hat er versucht, sie zurückzugewinnen.“
„Hast du deswegen vergessen, was passiert ist? Weil du es vergessen wolltest?“
Kjell nickte langsam. „Ich weiß noch, dass ich mich lange nicht bewegen konnte. Mir ging es so schlecht, dass sogar mein Vater in Panik verfiel. Er dachte wohl, er hätte mich totgeschlagen. Seltsam, dass ich trotz allem mehr Mitleid als Hass für ihn fühle.“
„Niemand darf so etwas tun!“ Fae schüttelte energisch den Kopf. „Niemand! Egal, was er erlebt hat. Du warst nicht schuld an Fionas Tod. Du konntest nichts dafür. Er hätte es nicht an dir auslassen dürfen.“
„Ich bin darüber weg, Fae. Es macht mir nichts mehr aus.“
„Deswegen läufst du auch mit Grabesmiene herum, was?“
„Hör auf, dir Sorgen zu machen. Nicht an einem so schönen Tag. Ich war nicht traurig, ich hatte keine Schmerzen. Es geht mir gut. Vielleicht war ich kurz nachdenklich, aber auch nicht mehr.“
„Wie du meinst. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass du mir von einer Million Gedanken nur einen verrätst, und zwar genau den, den ich hören will. Aber gut, du bist immerhin kein Mensch, und du hast das Recht auf große Geheimnisse und undurchschaubare Mienen.“
Klappernd wurde ein Silbertablett mit Teekanne, einem Schälchen voller Kandis und zwei Tassen auf ihrem Tisch abgestellt. Fae holte die Geldbörse aus ihrer Tasche und bezahlte sofort, legte ein großzügiges Trinkgeld obendrauf und bedeutete der Bedienung durch einen scharfen Blick, dass sie sich schnellstmöglich davonmachen sollte.
„Es kann kein Zufall sein“, sagte sie, als das Mädchen verschwunden war. „Diese Sonderausstellung, das Bild, deine Erinnerung. Alles hängt zusammen. Alles passiert zur richtigen Zeit, als würde uns irgendetwas in eine bestimmte Richtung drängen wollen. Ich werde Alexander nach dieser Frau fragen. Er kennt mehr Tricks als ich. Vielleicht kann er herausfinden, wo wir sie finden.“
„Das Leben ist wie eine Strömung.“ Kjell holte tief Luft und goss sich Tee ein. „Lassen wir uns einfach von ihr tragen. Etwas anderes bleibt uns sowieso nicht übrig.“
Er nippte an dem Getränk, gab einen überraschten Laut von sich und nahm einen zweiten, diesmal tieferen Schluck. Fae tat es ihm gleich. Oh ja, das Zeug war grandios.
Der Tee schmeckte scharf und würzig, süß und brennend. Sie schmeckte Zimt, Muskatnuss, Nelken, Honig und Rum. Ein sanftes Feuer glühte in ihrem Magen, breitete sich im Körper aus und machte sie federleicht. Das Schwatzen der Menschen und die leise, orientalische Musik umnebelten ihre Sinne wie das schattenhaft flackernde Licht der Laternen.
Kjells makellose Blässe verwandelte sich in lebendiges Rot. Seine Augen wurden glasig, während er die zweite Tasse trank.
„Tückisches Zeug“, bemerkte Fae. „Man schmeckt den Alkohol kaum, aber er haut so richtig rein.“
„Mir geht es gut“, erwiderte er. „Wirklich.“
Siehst du?, wehte es durch Faes Kopf. Jetzt weißt du, warum dein Vater sich damit abgefüllt hat.
Kjell lächelte, als seien die alten, verhassten Erinnerungen in weite Ferne gerückt. Er begann etwas zu erzählen, an das Fae sich im Nachhinein kaum mehr erinnern konnte, aber es hatte etwas mit Korallenriffen zu tun. Mit verrückten Formen, absonderlichen Geschöpfen und Strudeln aus allen nur erdenklichen Farben, deren Beschreibungen wie ein Schwarm kleiner, hektischer Fische in ihrem Kopf herumwuselten und sie schwindelig machten.
Obwohl Faes Vernunft protestierte, bestellte sie eine zweite Kanne Tee, bezahlte und kicherte vor sich hin, während sie das heiße Gebräu in sich hineinkippte und beobachtete, wie Kjell es ihr gleichtat. Zwischendurch nahm er ihr Gesicht in beide Hände, küsste sie vor allen Leuten und raunte unverständliche Dinge in ihr Ohr.
Irgendwann – die bunten Schatten tanzten inzwischen wie wildgewordene Derwische um sie herum – zerrte Kjell sie nach draußen. Willenlos überließ sie sich seiner
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