Die Seelenburg
Die Marmorplatten auf dem Boden strahlten eine regelrechte Kälte aus. Sie gaben das Gefühl wider, das Celine während ihres Aufenthaltes in der Burg empfunden hatte. Rechts lag ein weiterer Trakt der Burg. Es war der kleinste, und dort hatte das Personal seine Räume. Die Leute kamen unten aus dem Dorf, sie waren praktisch für die Zeit eingestellt worden, die der Schreiber-Clan in der Burg verbrachte. Celine verstand sich mit den einfachen Menschen gut. Sie hatte schon ein paarmal mit ihnen zusammengesessen und Selbstgebrannten Obstler getrunken.
Über eine Steintreppe gelangte sie in den Trakt. Die Treppe führte noch tiefer und endete praktisch vor der Küche. Deren Tür war geschlossen, aber unter der Ritze fiel ein Lichtstreifen hindurch, auch hörte Celine ein Radio dudeln und die Stimme der Köchin.
Schnell huschte sie an der Tür vorbei und erreichte dann den Personaleingang.
Er war verschlossen!
Celine Wald schluchzte vor Enttäuschung auf. Sekundenlang schloß sie die Augen, dann jedoch gab sie sich einen innerlichen Ruck und ging wieder zurück.
Als sie anklopfen wollte, wurde die Küchentür bereits aufgestoßen. Die Köchin erschien.
Beide Frauen erschraken.
»Himmel«, sagte die Köchin, »haben Sie mich aber erschreckt, Fräulein Celine!«
»Entschuldigung, das wollte ich nicht.« Celine lächelte.
Die korpulente Köchin mit dem dunklen Haar ließ ihren Blick über die Frau gleiten. »Wollen Sie etwa noch weg, Fräulein Celine?«
»Ja, ich möchte noch einen Brief einwerfen.«
»Jetzt?«
»Es ist dringend.« Sie räusperte sich. »Aber die Tür des Lieferanteneingangs ist verschlossen.«
»Gehen Sie doch vorn…«
»Nein, das möchte ich aus ganz bestimmten Gründen nicht, wenn Sie verstehen.«
»Ja, natürlich.« Die Köchin verstand trotzdem nicht.
»Könnten Sie denn aufschließen?« fragte Celine.
»Ich habe den Schlüssel nicht.«
Das war der zweite Tiefschlag in den letzten fünf Minuten. Celine wischte sich über die Stirn. Sie wurde sehr blaß, und auf ihrem Gesicht sammelte sich Schweiß.
»Ist Ihnen nicht gut?« fragte die Köchin.
»Doch, doch. Ich hatte nur damit gerechnet…«
Die ältere Frau nickte verständnisvoll. »Moment, ich sehe mal eben nach.« Sie verschwand wieder in der Küche, während Celine voller Angst wartete.
Dann kam die Köchin zurück. In der Hand hielt sie den Schlüssel. »Den habe ich in der Jacke des Hausdieners gefunden. Ich wußte doch, daß er irgendwo steckte.«
»Ein Glück.« Celine atmete auf.
»Wollen Sie bis nach Gunter?«
»Da ist doch der Briefkasten.«
»Dann beeilen Sie sich. Das sind drei Kilometer, und Sie müssen noch zurück.«
»Ich weiß, aber ein Abendspaziergang wird mir gut tun.«
»Das ist schon mehr ein Nachtmarsch. Viel Glück auf jeden Fall, Fräulein Celine.«
»Danke.«
Die Köchin schloß die Tür. Celine Wald atmete erst einmal tief durch, als sie vor der Burg stand. Sie preßte ihre Hand dorthin, wo unter der Brust ihr Herz schlug.
Das war hart gewesen. Im letzten Augenblick hatte sie es wirklich geschafft.
Celine schaute sich um. Die Burg lag in einem Hochtal und stand auf einem Plateau hoch über dem Tal. Hinter ihr stiegen die steilen Wände der Dreitausender in die Höhe, deren obere Kämme mit einer weißen Schicht bedeckt waren. Dort lag der ewige Schnee.
Zur Vorderseite hin hatte man einen fantastischen Blick in das Tal, wo die Orte Gunter und Savognin lagen. Da sich der Nebel inzwischen fast aufgelöst hatte, sah Celine auch die Lichter, die wie ferne, helle Grüße zu ihr herüberschimmerten.
Von der Burg zur Straße war es nicht mal weit. Es gab einen Pfad, der so breit war, daß er auch Platz genug für Busse oder Lastwagen bot.
Dieser Weg wurde durch Schreibers Leute immer freigehalten, denn er wollte seinen illustren Gästen keine allzu großen Schwierigkeiten zumuten.
Celine Wald kannte sich aus. Auch im Dunkeln hatte sie den Pfad schnell gefunden. Als die zu beiden Seiten wachsenden Bäume ihr die Sicht auf die Burg nahmen, da atmete sie tief durch. Jetzt hatte sie die erste Hürde geschafft.
Doch Celine irrte sich. Sie konnte nicht wissen, daß Gordon Schreiber seine Gäste durch versteckt angebrachte Kameras überwachen ließ. Ihm entging nichts, und auch die Flucht seiner Sekretärin hatte er bemerkt.
Schreiber lächelte nur. Er verließ den Kontrollraum, schloß eine Tür auf und betrat ein Zimmer, das praktisch nur ihm zur Verfügung stand und von keinem anderen betreten
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