Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
die ihr ganzes weiteres
Leben beeinflussen würde.
Rabea
stürmte nach Hause und traf ihren Großvater, wie üblich, in seinem
Arbeitszimmer an. Sofort sprudelte sie los, was der Junge auf dem Sportplatz an
infamen Lügen von sich gegeben hatte. Zu ihrem größten Unverständnis, griff
dieser nicht sofort nach seiner wollenen Joppe, um wutschnaubend mit ihr
zusammen zum Sportplatz zurückzueilen, stattdessen hatte er seine kleine
Enkelin sanft in seinen alten zerschlissenen Lieblingssessel gedrückt. Ihre
kleine Gestalt verschwand beinahe in dem durchgesessenen Polster und ihre
dünnen Beine ragten steif über die Kante hinaus.
"Aber
Großvater", wehrte sie sich, "Wir müssen sofort zurück, sonst ist der
Junge vielleicht weg", keuchte Rabea, noch völlig außer Atem von dem
schnellen Lauf nach Hause.
"Mein
Kind, beruhige dich erst einmal, trinke ein Glas Zitronenlimonade und iss ein
Plätzchen. Deine Großmutter hat beides frisch zubereitet." Er schob ihr
auffordernd das Glas und den Teller mit den köstlichen, ofenwarmen
Schokoladekeksen zu. Dabei gab er der Großmutter, die bei Rabeas lärmender
Rückkehr mit beidem aus der Küche herangeeilt war, bereit etwaige Blessuren
ihrer Enkeltochter zu versorgen, ein Zeichen, ihn mit dem Kind alleine zu
lassen.
Bevor
sie dies tat, hauchte die Großmutter Rabea einen zärtlichen Kuss auf den
dichten roten Haarschopf, der durch zwei hüftlange Zöpfe gebändigt wurde. Bevor
sie ging, bedachte sie ihren Angetrauten mit einem langen tiefgründigen Blick
aus melancholischen Augen. Der stutzte einen Moment, glaubte er doch einen
Funken Schadenfreude darin entdeckt zu haben und begriff: Seiner Frau konnte er
nichts vormachen, sie hatte ihn durchschaut. Sie wusste es! Sie wusste, wie
sehr ihm vor den nächsten Minuten mit seiner allzu gescheiten Enkeltochter
graute. Er, der hoch gebildete und angesehene Rabbi der kleinen israelitischen
Gemeinde am Rande Nürnbergs, er, der Gelehrte, der keinem theologischen Diskurs
je aus dem Wege gegangen war, fürchtete sich jetzt vor dem Gespräch mit seiner
kaum zehnjährigen Enkeltochter. Und sein ihm angetrautes Eheweib scheute sich
nicht, sich an seiner Unbehaglichkeit zu weiden!
Rabeas
Großmutter hatte zwar geahnt, dass es eines Tages dazu kommen, aber gehofft,
dass es nicht so früh passieren würde. Diese neue Generation von jungen,
selbstbewussten Mädchen, die in diesem Lande heranwuchs, und denen beinahe alle
Möglichkeiten offen standen, würde es den Männern sehr viel schwerer machen.
"Nun,
nun, Rabea, ähm." Der Großvater räusperte sich und zog ein frisch
gebügeltes Taschentuch aus seiner Hosentasche. Umständlich faltete er es
auseinander, um dann geräuschvoll hinein zu trompeten. Achtlos knüllte er es
zurück in seine Hosentasche und entdeckte nun, dass ihm etwas an seinem linken
Hosenträger nicht passte. Rabea, die aufmerksam das merkwürdige Gebaren ihres Großvaters
verfolgte, begann in dem riesigen Ohrensessel unruhig auf und ab zu rutschen.
Endlich schien der Hosenträger seinen Ansprüchen zu genügen und der Großvater
blieb direkt vor Rabea stehen. "Nun, nun. Unterhalten wir uns, mein Kind.
Übrigens kenne ich den Vater des Jungen. Er hat mir erzählt, dass sein Sohn
neuerdings auf die gleiche Schule geht wie du. Der Beschreibung nach hast du
heute mit ihm Bekanntschaft gemacht. Ich werde mit dem Vater sprechen, damit
sich sein Sohn in Zukunft in seinem Benehmen und seiner Wortwahl mehr mäßigt.
Er ist gerade erst dreizehn geworden und wahrscheinlich ist ihm seine
Bar-Mizwah-Feier in den Kopf gestiegen", versuchte sich der Großvater an
einem Scherz. Seine Enkeltochter verzog keine Miene.
"Zuerst
einmal hast du natürlich Recht und der Junge Unrecht. Mädchen oder Frauen sind
selbstverständlich keine minderwertigen Wesen", sagte er etwas lauter als
nötig, davon ausgehend, dass seine Frau nicht würde widerstehen können und an
der Tür lauschte. Listig fügte er hinzu: "Sieh dir nur deine tolle
Großmutter an. Wer es je wagen würde, so etwas über sie zu behaupten, der
bekäme es sofort mit mir zu tun." Kriegerisch schwenkte er seinen
hölzernen Gehstock, den er aufgrund einer alten Verletzung benutzen musste und
hoffte, dass Rabea diese wohlvertraute Geste wie immer mit einem glucksenden
Kichern honorieren würde. Doch seine Enkeltochter blieb völlig ungerührt und
verfolgte stattdessen jedes seiner Worte mit anrührendem Ernst.
Der
Großvater sah, wie ihn das Kind weiter mit ihren großen und allzu
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