Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
sprechenden
Augen beobachtete, die ihm nichts als Liebe und grenzenloses Vertrauen
entgegenbrachten. Trotz seines lädierten rechten Beines kniete er sich ächzend
zu seiner geliebten Enkelin hinab, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Mit einer
behutsamen Geste legte er ihr nun seine schönen Gelehrtenhände auf die
schmalen, allzu zerbrechlichen Schultern und sagte beschwörend: "Rabea, du
musst mir jetzt gut zuhören. Es war absolut nicht richtig, wie der Junge dich
behandelt hat. Ein Mann hat einer Frau immer und jederzeit Respekt zu erweisen.
Aber in einem hatte der Junge leider Recht gehabt. Es steht tatsächlich so
geschrieben: Eine Frau kann kein Rabbi werden."
Bestürzt
beobachtete der Großvater, wie das Gesicht seiner geliebten Enkeltochter von
einer Sekunde zur anderen von einer beängstigenden Blässe überzogen wurde. Die
Kleine reagierte genauso, wie er es befürchtet hatte. Fassungslos starrte sie
ihn an und der alte Rabbi sah in ihrem Gesicht die verschiedensten Empfindungen
aufblitzen: Zunächst Ungläubigkeit und die Weigerung, das Gehörte zu glauben
und dann, als dem Kind dämmerte, dass der Junge tatsächlich nicht völlig die
Unwahrheit gesagt hatte, abgrundtiefe Enttäuschung. Dann wechselte der Ausdruck
in ihren Augen und der Rabbi erkannte, dass das ihm entgegengebrachte, vormals unerschütterliche
Vertrauen im grünen Feuer der Verzweiflung verglühte. Beinahe vermeinte er das
Echo in seinem schmerzhaft pochenden Herzen zu spüren, als seine Enkelin die
Heldenverehrung für ihren Großvater vom Sockel stürzte. Er wusste, es war
allein seine Schuld, dass es so weit gekommen war. Zu lange hatte er das
Gespräch mit ihr hinausgezögert. Hatte immer nur gelacht und sein kleines
Mädchen hochgehoben und herumgeschwenkt, wenn sie wieder einmal voller Ernst,
gleich in welcher Runde, verkündete, dass sie später ein großer Rabbi werden
würde. Er hatte ihre Ernsthaftigkeit, ihre Klugheit und ihren Willen zu lange
unterschätzt und damit ihrer zarten Kinderseele ein ernsthaftes Leid zugefügt.
Jetzt war es zu spät und der Schaden angerichtet. Seine Frau hatte ihn oft
genug gewarnt. Eine kleine Ewigkeit herrschte vollkommene Stille zwischen dem
alten Mann und dem kleinen Mädchen. Auch Shlomo, der betagte, ihnen vor vielen
Jahren zugeflogene Wellensittich schien zu spüren, dass etwas Ungewöhnliches
vor sich ging, denn er hatte sein geräuschvolles Scharren eingestellt und
lauschte auf seiner Stange mit schief gelegtem Kopf.
Der
alte Rabbi wartete auf Rabeas Reaktion. Das Kind verharrte still und wirkte
völlig in sich gekehrt. Dachte sie über das Gehörte nach oder überlegte sie
sich logische Argumente, um ihn zu widerlegen?
Der
alte Mann musste betrübt feststellen, dass ihn die Stille und das Warten weit
mehr aufwühlten, als wenn Rabea ihm mit wilder Wut begegnet wäre. Nach einer
schier endlos währenden Zeit vollständigen Schweigens schien seine Enkeltochter
zu einem Schluss gekommen zu sein. Sie hob ihren schmalen Kopf. Wie ein
waidwundes Tier schaute sie zu ihm auf und in ihren Augen lag ein solch
abgrundtiefer Ausdruck des Schmerzes, dass es ihrem Großvater das Herz zerriss.
Mit trostloser Stimme fragte sie ihn: "Dann sag mir nur eines, Großvater.
Wenn Frauen, wie du sagst, keine minderwertigen Wesen sind, warum dankst du
dann bei deinem täglichen Morgengebet deinem Gott dafür, dass du keine Frau
bist?"
Hierauf
geschah es, dass der alte Rabbi zum ersten und zum einzigen Male in seinem
ganzen bisherigen Leben der Enkelin eine Antwort schuldig bleiben musste.
Von
diesem Tag an hatte sich das Verhältnis zwischen den beiden verändert. Es war,
als ob sich das Gleichgewicht ihres Miteinander verlagert hätte, nur, dass die
Waage des Verstehens bei keinem der beiden ausschlug. Hatte Rabea früher um
jede Minute alleine mit ihrem Großvater gebuhlt, war es nun an dem alten Rabbi,
um ihre Gunst zu werben. Zwar brachte das kleine Mädchen ihrem Großvater
weiterhin den ihm gebührenden Respekt und auch Liebe entgegen, jedoch stellte
sie ihm nie wieder eine Frage über das Judentum; von einem Tag auf den anderen
schien ihr glühendes Interesse daran erloschen. Nie wieder kamen Großvater und
Enkeltochter wie früher vertraulich in seinem Studierzimmer zusammen, Rabea
bäuchlings auf dem alten Teppich liegend, während sie mit irgendeinem kleinen
Tier ihres beständig anwachsenden Zoos gespielt hatte. Nie wieder lauschte sie
gebannt den spannenden Erzählungen ihres Großvaters, die sie
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