Die Seelenjägerin
unerhört geblieben war. Sie weinte um all die Demütigungen, die Kostas ihr zugefügt und die sie schweigend ertragen hatte. Und sie weinte, weil sie Großkönigin war und als solche außer in dieser Gesellschaft ihren Tränen niemals freien Lauf lassen durfte.
Endlich hatte sie sich alles Leid von der Seele geweint und trat zurück. Während sie sich die Augen trocknete, wandte sie den Blick ab und gestattete ihrem Sohn, ungestört das Gleiche zu tun, wenn er es wünschte. Männer trugen ihre Tränen nicht so öffentlich zur Schau wie Frauen. Dann endlich schaute sie ihm in die Augen – sie waren blau, so blau wie die Flüsse im hohen Norden, wenn im Frühling das Eis brach – und flüsterte staunend: »Du bist nicht tot.«
»Nein.« Sein Lächeln war so zärtlich, dass es ihr fast das Herz brach. »Jedenfalls noch nicht.«
»Weiß der König davon?«
Seine Lippen wurden schmal. »Noch nicht.«
»Aber … wie kommt es dann, dass du hier bist? Die Wachen müssen dich doch gesehen haben …«
»Ich habe dieselben Tunnel benützt wie einst als Knabe. Weißt du noch? Du und Vater, ihr habt immer das ganze Schloss nach mir abgesucht, aber ich kannte all die alten Wege: die Dienstbotenkorridore, die längst vergessenen Zwischenräume zwischen den Mauern, die geheimen Gänge, die gegraben wurden, wenn eine Belagerung drohte …« Sein flüchtiges Lächeln beschwor jene Tage herauf, den jungen Prinzen, der den Unterricht schwänzte und lieber im Wald spielte. Das Herz wurde ihr schwer, wenn sie nur daran dachte!
»Alles ist immer noch so, wie es war. Wenn auch nicht ganz so geräumig, wie ich es in Erinnerung hatte.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Außer dir hat mich niemand hier gesehen.«
»Du hast deinen Tod vorgetäuscht.« Die Stimme versagte ihr; sie musste die Worte gewaltsam durch die Kehle pressen. »Warum, Andovan? Warum hast du das getan?«
Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Er wandte sich ab, als könnte er ihr bei der Antwort nicht in die Augen sehen. »Weil ich es nicht ertragen konnte, im Bett zu sterben«, sagte er endlich. »Wenn es einen Grund für meinen Zustand gab, wollte ich ihn aufspüren, und wenn mir das nicht gelänge … dann wollte ich lieber auf der Straße umkommen, so dachte ich, im Kampf gegen mein Schicksal, anstatt in Decken gehüllt wie ein hilfloser Säugling.«
Sie schloss die Augen und bemühte sich, aus alledem klug zu werden. »Der Brief, den du hinterlassen hast …«
»Stammte tatsächlich von meiner Hand. Und jedes Wort war ernst gemeint.«
»Aber der Leichnam …«
»War natürlich nicht der meine. Obwohl es den Anschein hatte.«
»Aber Ramirus sagte, du wärst es. Er hätte Zauberei eingesetzt, um sich zu vergewissern. Kannte auch er die Wahrheit?«
»Nein.« Ein Ausdruck der Qual ging über seine Züge. »Er wusste von nichts.«
»Er hat dir nicht geholfen?«
»Wie hätte ich ihn darum bitten können? Seine erste Pflicht galt meinem Vater, nicht mir. Er hätte seinen König niemals um meinetwillen belogen.«
»Wer aber dann …?« Ihre Augen wurden groß, als ihr die Erleuchtung kam. Damals waren alle Magister hier. Genug Macht, um tausend Tode vorzutäuschen.
»Welcher von ihnen?«, flüsterte sie.
Zum ersten Mal zögerte er.
»Sag es mir, Andovan.«
»Colivar«, sagte er. »Es war Colivar.«
Sie zog scharf den Atem ein. »Der Anchasaner?«
Er wehrte ihren Protest mit einer Handbewegung ab. »Ich weiß, was du jetzt sagen willst – er dient einem Feind unseres Hauses –, aber in diesem Fall hatten wir die gleichen Ziele. Die Magister glaubten, jemand hätte mich verflucht, und sie wollten herausfinden, wer es war. Colivar sagte, ich verfügte über die innere Macht, die Täterin aufzuspüren, seine Zauber sollten mir nur helfen, meine Kräfte zu bündeln. Niemand sonst wäre dazu fähig. Aber ich wusste, dass Vater mich niemals ziehen ließe, und dass Ramirus mir niemals helfen würde, und deshalb entschied ich mich … für diesen Weg.«
Sie schloss die Augen, um seine Worte verarbeiten zu können. Colivar . Natürlich . Seit sie dieses Mosaiksteinchen hatte, fügte sich alles zusammen. Wie einfach musste es für den fremden Magister gewesen sein, in ihrem Sohn zu lesen wie in einem offenen Buch, er hätte genau gewusst, mit welchen Worten er ihn immer tiefer in seine Verzweiflung hineintreiben konnte … bis er nur noch einen Ausweg sah, seinem Herzen anstatt seinem Verstand folgte und auf die Vorschläge des Feindes
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