Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
einsetzen konnte, mussten sie erst aufgespürt und erkannt werden. Was also befand sich im Herzen dieses Geheimnisses?
Kapitel 16
Der Wind fegte über den Gipfel, und ringsum brandete ein Wolkenmeer wie ein aufgewühlter Ozean gegen die Flanken der umliegenden Berge. Wenn sich die Wolken kurz teilten, konnte man hier und dort einen Blick auf die Erde erhaschen, aber sie war so weit entfernt, dass sie unwirklich wirkte wie in einem Traum. Dann zogen die Wolken weiter, die Öffnung schloss sich, und wieder ragten, so weit das Auge reichte, nur die Granitspitzen wie eine Kette von schroffen Inseln aus dem weißen Ozean.
Fadir traf als Letzter ein. Sein Zauberportal erschien flimmernd in der dünnen Bergluft und gestattete ihm, so lässig auf den kahlen Granit zu treten, als schlendere er durch den königlichen Park. Doch als er sich umsah, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. Nachdem er den anderen Anwesenden – Ramirus, Lazaroth und Sula waren schon einige Zeit hier – rasch zugenickt hatte, schaute er über die kahle Landschaft und suchte nach einem Hinweis darauf, wo er sich befand oder wozu man ihn hierher gerufen hatte. Aber solche Hinweise gab es nicht.
»Was soll das alles?«, wollte er wissen.
Lazaroth zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
Hier oben auf dem Gipfel war die Luft dünn und kalt. Normalerweise wäre ihm das nach der drückenden Sommerhitze willkommen gewesen, aber Fadir war zu leicht bekleidet, und ein frostiger Luftzug lockte auf beiden Armen die Gänsehaut hervor. Mit einem leisen Fluch zog er genügend Macht an sich, um sich passende Kleidung zu beschwören. Sein Gewand verwandelte sich in eine lange Wollrobe, wie auch Ramirus sie trug. Diesmal war der alte Magister in Fragen der Mode für alle tonangebend gewesen.
»Wo ist denn Colivar?«, fragte Fadir.
Lazaroth stellte mit einem spöttischen Blick klar, dass die Antwort auf diese Frage genauso lautete wie auf die erste und er keine Lust hatte, sich zu wiederholen.
Fadir schnaubte kurz, setzte sich zu den anderen auf einen Felsrücken und wartete ab.
Colivar beobachtete sie lange aus den Schatten. Er hatte sich mit Zauberei vor ihren Blicken verborgen. Bevor er hierherkam, hatte in seinem Inneren ein Aufruhr getobt, und er war nahe daran gewesen, das Treffen einfach abzusagen. Doch mit seinem Eintreffen hatte sich eine seltsame Ruhe über ihn gesenkt. Eine wahrhaft befremdliche Empfindung in diesem Moment! In seinen Anfangszeiten als Magister war Ruhe ein seltener Genuss gewesen, ein Zustand, den er kaum zu fassen vermochte. Wie sehr hatte er sich seit damals verändert. Und doch … in seinen wichtigsten Zügen war er sich vollkommen gleich geblieben!
Ramirus hat recht , dachte er ernst. Es ist an der Zeit, dass sie erfahren, wer sie wirklich sind.
Doch das machte die vor ihm liegende Aufgabe nicht leichter.
Die Sonne versank allmählich, und die Wolken erglühten in goldenem Feuer, als er endlich aus den Schatten trat. Er trug zu diesem Treffen die traditionelle Robe, und die unterschied sich so auffallend von seiner gewohnten Aufmachung, dass die anderen sichtlich verblüfft waren. Ramirus musterte ihn von Kopf bis Fuß und bemühte sich, aus der Wahl der Garderobe auf Colivars Absichten zu schließen. Vielleicht will ich dich damit nur ablenken , dachte Colivar. Vielleicht will ich, dass du auf andere Dinge nicht so genau achtest.
Er ging zu dem Felsenkreis, wo die anderen saßen, blieb aber selbst stehen und betrachtete sie eine Weile. Seine Verbündeten. Sollte er sie wirklich so nennen? Als ob so etwas wie ein Bündnis tatsächlich möglich wäre!
Ein dünner, kalter Wind fegte kurz über den Kreis, und Colivar hob zerstreut die Hand und befahl ihm mittels Zauberei, sich zu legen. Die Luft erwärmte sich und biss nicht mehr in die Lungen. Doch der Gipfel war und blieb öde und unwirtlich, und gerade deshalb hatte er das Treffen hier einberufen. Der Ort passte zu seiner derzeitigen Stimmung.
»Magisterkollegen«, begann er. »Ich habe euch hierher gebeten, um Wissen an euch weiterzugeben, das ich einst als Schüler von meinem Mentor bekam. In jenen Tagen war es üblich, dass ein Lehrer seinem Schüler nicht bloß erlernte Kenntnisse weitergab, sondern auch einen Teil seiner Erinnerungen. Das heißt, dass ich vieles von dem, was ich euch gleich sagen werde, ebenso durch seine Augen sah wie er zuvor durch die Augen seines Lehrers. Deshalb sind uns diese Dinge so vertraut, als hätten wir sie selbst erlebt.« Er
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