Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
sondern mit geradezu religiöser Ehrfurcht.
Kamala nahm alle ihre Kräfte zusammen, um die Machthülle dieser Frau zu durchdringen, ein schärferes Bild zu gewinnen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre Konzentration glitt immer wieder ab. Das Gefühl war vertraut und ließ sie bis in die Tiefen ihrer Seele erschauern. Dies musste Siderea sein; es gab keine andere Erklärung. Kamala dankte den Göttern, dass die Hexenkönigin nicht körperlich anwesend war und sie es nur mit Bildern zu tun hatte, die sie aus den Restenergien vergangener Ereignisse beschworen hatte. Selbige hatten kein eigenes Bewusstsein.
Etwas anderes dagegen schon, fiel ihr plötzlich auf. Dieses Etwas beobachtete sie. Sie spürte es wie einen eisigen Hauch im Nacken, fuhr jäh herum und versuchte mit ihren Zaubersinnen das gesamte Panorama auf einmal aufzunehmen. Doch sie konnte nicht feststellen, von wo das merkwürdige Gefühl ausging. War das die Besonderheit der hiesigen Metaphysik, vor der Colivar sie gewarnt hatte? Das Gefühl wurde stärker, während sie noch nach seiner Quelle suchte. Es schien von allen Seiten zu kommen, als wäre da nicht ein Ursprung, sondern viele. Ein Kreis von Quellpunkten, der allmählich um sie herum Gestalt annahm …
… und zu Bildern wurde, die sie erkennen konnte.
Sie war von Dutzenden von Gestalten umringt. Geisterbilder, menschlich, halb menschlich oder gar völlig fremd. Nacheinander erschienen sie aus dem Nichts, als müssten sie ihre Substanz aus der Landschaft ziehen. Und nacheinander nahmen sie ihre Plätze ein, bis ein geschlossener Kreis entstanden war, in dessen Zentrum sie sich befand. Drei Reihen von ihnen waren sichtbar, und dahinter schlossen sich noch weitere Ringe an. Teilnahmslose Gestalten, unergründliche Gesichter, reglose Körper …
Sie unterbrach den Kontakt und flüchtete. Ihr Bewusstsein wurde mit solcher Wucht in ihren Körper zurückgeschleudert, dass ihr die Luft wegblieb. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, bemühte sie sich zunächst, nach außen hin so gefasst zu wirken, dass Colivar nicht merkte, was geschehen war.
Götter. Die gleichen Götter hatten sie beobachtet, bevor sie sich auf die Suche nach der Königin des Nordens begeben hatte. Damals hatte sie sie nicht vollständig sehen können, aber sie hatte sie gespürt. Und diese Präsenzen hatten sich genauso angefühlt.
Wer waren sie? Was wollten sie von ihr? Sie hatte nicht den Schimmer einer Antwort.
Vielleicht trieb auch nur Tefilats Macht ihre Spiele mit ihrem Geist, dachte sie. Vielleicht hatte der Einsatz von Zauberei für diese Suche Erinnerungen an die erste Suche geweckt, und die seltsame Resonanz der Stadt hatte die beiden Unternehmungen in ihrem Geist durcheinandergewürfelt. Dennoch blieb die Frage, wieso die Götter sie beim ersten Mal beobachtet hatten. Hatten sie ein persönliches Interesse an diesem Seelenfresser-Krieg? Oder hielten sie einen weiblichen Magister für widernatürlich, womöglich für ein Wesen, das mit seinen Zauberkräften die natürliche Ordnung störte? Ihre stoischen Mienen hatten ihr nichts verraten.
Als sie glaubte, sich so weit im Griff zu haben, dass sie ein Gespräch unter Menschen führen konnte, schlug sie die Augen auf.
Über ihrer Suche war es Nacht geworden. Jemand hatte mehrere Fackeln angezündet, die sich als winzige Flämmchen in Colivars Augen spiegelten. Er beobachtete sie aufmerksam.
»Nun?«, fragte er. »Was hast du gesehen?«
Ob er wohl wusste, was ihr widerfahren war? Solange er nichts anderes sagte, würde sie davon ausgehen, dass er ahnungslos war. »Sie ist zurzeit nicht dort«, stieß sie heiser hervor. Vor Schreck über die Vision war ihr die Kehle wie zugeschnürt. Sie räusperte sich vorsichtig, um die Muskeln zu entspannen. »Aber sie war dort, zusammen mit den Hom’ra. Vor nicht allzu langer Zeit. Und auch ihre Seelenfresser-Königin war dort.«
»Wo man die eine findet, ist die andere nicht weit«, bemerkte er. Und dann: »Ich will alles wissen.«
Und sie erzählte. Beschrieb ihre Visionen so eingehend sie konnte und beschwor Bilder, wo ihr die Worte fehlten. Nur die letzte Vision, das Auftreten der Götter, behielt sie für sich. Die darin enthaltene Botschaft konnte möglicherweise für sie allein bestimmt gewesen sein, und sie sah deshalb keine Veranlassung, sie weiterzugeben.
Als sie ihren Bericht beendet hatte, dachte Colivar eine Weile darüber nach. »Sie benützen die Stadt als Schauplatz für irgendetwas, so viel ist
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