Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
hilflos vor ihm lag. Warum also sollte er es heute tun?
»Noch etwas«, warnte er sie, als sie sich zurücklehnte und sich anschickte, ihre geistige Reise anzutreten. »Es könnte sein, dass Zauberkräfte dort nicht richtig wirken.«
Wieder dieses leise Schmunzeln. »Habt Ihr mich eigentlich schon einmal an einen Ort geschickt, wo die Magie tatsächlich so wirkte, wie sie sollte?«
Sie schloss die Augen, ohne auf seine Antwort zu warten. Tefilat war offenbar nicht weit entfernt; sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihre Zauberkräfte auf einen festen Punkt zu richten. Danach war es nicht schwer, wie damals in den Spinas-Bergen ihre Sinne auszuschicken und den Ort zu erkunden. Und das Verfahren war auch sicher, solange man sich nicht daran störte, dass man seinen bewusstlosen Körper in der Gewalt eines anderen Magisters lassen musste.
Ringsum nahm eine rötliche Landschaft Gestalt an. An manchen Stellen war die Erde wellenförmig aufgewölbt und von orange- und rostroten Streifen durchzogen, als hätte man ein Stück Stoff auf den Boden geworfen. Da und dort ragten Felsgebilde auf, vom Wind zu schönen und zugleich bizarren Formen modelliert, die verwirrend ineinanderflossen, wenn sie im Geiste den Blick darüber schweifen ließ.
Sie folgte mit ihrem inneren Auge den Spuren im Sand zu einer breiten Schlucht mit einem ausgetrockneten Flussbett in der Mitte. Die Wände ragten zu beiden Seiten hoch auf und waren durchsetzt mit schattigen Nischen, die groß genug waren für ein ganzes Haus. In einigen dieser Nischen standen auch tatsächlich Häuser, die jedoch längst verlassen waren. Die Zeit und der Wind hatten an den Mauern genagt, und bisweilen war schwer zu erkennen, wo ein Haus endete und die natürlichen Geröllablagerungen begannen.
Dann kam sie um eine Biegung – und vor ihr lag Tefilat.
Ein atemberaubender Anblick. Kamala, die in der Gosse von Gansang aufgewachsen war, war überwältigt. Hier hatte man in den natürlichen Nischen und auf den Felssimsen der Schluchtwände nicht bloß einfache Behausungen errichtet, sondern vornehme Paläste, die manchmal mehrere Stockwerke hoch waren. Über die reich gegliederten Fassaden zogen sich Wellen und Kringel aus buntem Sandstein, als wären sie nicht von Menschenhand bearbeitet worden, sondern organisch gewachsen.
Eine schöne, eine prächtige Stadt. Aber auch eine unheimlich leere Stadt.
Und eine verdorbene Stadt.
Sie spürte die pervertierte Macht, die von dem uralten Stein ausstrahlte, sah sie düster um die reich verzierten Wände flimmern, konnte in ihrer Seele schmecken, wie widernatürlich sie war. Reste von misslungenen Zauberbannen hafteten an diesem Ort, zusammen mit Erinnerungen an menschliche Ängste und dem Widerhall grausamer Blutbäder. Nein, in ihrem wirklichen Körper hätte sie nicht hier stehen und sich diesen schwarzen Energiefragmenten aussetzen wollen. Kein Wunder, dass die Menschen diesen Ort inzwischen mieden.
Vor Kurzem war indes jemand hier gewesen, das spürte sie deutlich. Sie tastete nach einer Identität. Zunächst konnte sie nur unscharfe Bilder beschwören, Echos aus der fernen Vergangenheit. Heere sammelten sich. Zauber wurden gewirkt. Die Schatten gewaltiger Schwingen glitten über den Boden der Schlucht. Hinter ihnen blieben Leichen zurück, lebendes Fleisch, dem das menschliche Bewusstsein ausgesogen worden war.
Dann wurden die Eindrücke klarer und bezogen sich auf näher liegende Ereignisse. Sie sah Wüstenbewohner durch die Schlucht ziehen, und ihre Macht lieferte ihr einen Namen: Hom’ra . Dann erschienen andere Gestalten. Hexen und Hexer. Sie kniff die Augen zusammen, um Einzelheiten zu erkennen, obwohl ihre physischen Augen für diese Suche gar nicht gebraucht wurden.
In diesem Augenblick zog ein Schwingenschatten über sie hinweg. Einige Hom’ra blickten nervös nach oben, doch die meisten schienen den Seelenfresser gar nicht wahrzunehmen. Sie spürte, wie seine Macht an den Seelen der Menschen leckte und an der Essenz ihres Lebens nippte, um seinen Hunger zu stillen. So schnell, wie das Ungeheuer gekommen war, verschwand es auch wieder. Die Stammesleute setzten ihre Arbeit fort und trugen Vorräte in die Stadt, als wäre nichts geschehen, bis eine Frau auf sie zutrat. Sie trug ein ärmelloses weißes Gewand und hatte sich in so viele Schichten von Schutzzaubern gehüllt, dass Kamala ihre Identität nicht erkennen konnte. Die Hom’ra verneigten sich vor ihr, aber nicht wie vor einem irdischen Herrscher,
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