Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
verbesserte sie sich: mit unserer Gabe.
Der magische Kokon, in den sie sich eingesponnen hatte, schien plötzlich wärmer zu werden, als sei etwas Neues zu seiner Substanz hinzugekommen. Oder bildete sie sich das bloß ein? War sie auf diese neue Macht so versessen, dass sie Veränderungen sah, wo keine waren?
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen betrat sie Sulas Arbeitszimmer zum zweiten Mal. Er saß an seinem Tisch und studierte die große Karte. Hin und wieder fügte er eine Anmerkung hinzu. Ein Tintenfass schwebte wenige Zoll über der Platte, und wenn er seinen Federkiel eintauchte, bewegte es sich genau unter die Spitze, sodass kein Tropfen Tinte verschüttet wurde.
Er schien nicht zu bemerken, dass sie zurückgekommen war.
Sie beobachtete ihn eine Weile, dann ging sie einen Schritt weiter. Und noch einen.
Er nahm noch immer keine Notiz von ihr.
Schritt für Schritt näherte sie sich ihm, bis sie voll in seinem Blickfeld stand. Wenn er den Kopf hob, musste er sie sehen. Sie begann zu zittern, während sie darauf wartete. Stellte sich vor, wie schrecklich sein Zorn sein würde, wenn er ihr Eindringen erst wahrnahm.
Aber er nahm nichts wahr. Immer wieder tauchte er seine Feder in die Tinte und machte seine Randbemerkungen, als wäre niemand sonst im Raum.
Du kannst dich nicht an einen Magister anschleichen , hatte Aethanus sie gelehrt. Genau der Zauber, der dich für Morati-Augen unsichtbar macht, offenbart uns deine Anwesenheit, und daran kann kein magischer Trick etwas ändern. Ein Magister mag dein Gesicht nicht erkennen oder nicht genau wissen, wo du stehst, doch wenn du ihm zu nahe kommst, wird er deine Zauberkräfte spüren. Sie lassen sich nicht verbergen.
Von draußen war plötzlich ein Geräusch zu hören. Kamala erschrak. Sula schaute auf, bevor sie zur Seite treten konnte. Panik erfasste sie, als sie erkannte, dass sie genau zwischen ihm und der Tür stand, doch jetzt war daran nichts mehr zu ändern.
Die klaren blauen Augen wandten sich in ihre Richtung und schienen sie für einen Moment direkt anzusehen. Dann drohte der Zauber, der sein Tintenfass in der Luft hielt, zu versagen, und er musste ihn verstärken. Als er damit fertig war, hatte der Lärm vor der Tür aufgehört, und er widmete sich wieder seiner Arbeit, als wäre nichts geschehen.
Er hatte sie nicht gesehen.
Er hatte sie nicht gesehen!
Mit zitternden Beinen machte sie ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und eilte hinaus. Draußen im Gang wichen ihr die Diener aus, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Der Zauber, der sie jetzt schützte, tat seine Wirkung. Und die würde er auch auf Magister ausüben , dachte sie. Colivar hatte recht behalten, was ihr Wesen anging, und das hieß, dass Sidereas Waffen nun auch ihr zur Verfügung standen. Sie musste nur noch herausfinden, wie sie einzusetzen waren.
Colivar.
Er war nach Tefilat gereist. Allein. Das stand für sie nicht weniger fest, als dass am nächsten Tag morgens die Sonne aufgehen würde. Er war Siderea geradewegs in die Falle gelaufen. Und sie, Kamala, hatte mitgeholfen. Ebenso wie Sula. Alle hatten sie nach der Pfeife der Hexenkönigin getanzt, ohne es zu ahnen.
Brennender Zorn stieg in ihr auf, gefolgt von heftigen Selbstvorwürfen, die sie als fremd und abstoßend empfand. Sie waren noch stärker als die Schuldgefühle, die sie bei Rhys’ Trauerfeier überfallen hatten. Was war aus der ungestümen jungen Hure geworden, die sich niemals entschuldigt, nichts bedauert und die Folgen ihrer Taten als den unvermeidlichen Preis für ihre Unabhängigkeit betrachtet hatte? Je näher sie anderen Menschen kam, desto mehr geriet diese junge Hure aus ihrem Blickfeld.
Colivar.
Es gab Gründe, warum sie wollte, dass er am Leben blieb, versicherte sie sich. Er war so alt, dass man ihm Gehör schenkte, und so mächtig, dass er das Missfallen keines anderen Magisters zu fürchten brauchte. Und er hatte angedeutet, dass er ihr helfen könnte, sich aus dem Schlamassel zu befreien, in den sie sich durch das Töten des »Raben« gebracht hatte. Seinen Beistand entbehren zu müssen wäre ein herber Verlust. Der Wunsch, ihn zu retten, war aus rein praktischen Erwägungen entstanden. Schuldbewusstsein spielte dabei keine Rolle.
Niemand sah sie den Palast verlassen. Wieso auch? Wer sollte sich schon für einen Vogel interessieren, der von einem leeren Balkon in den Morgenhimmel aufstieg? Augen wandten sich von ihr ab,
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