Die Seelenkriegerin: Roman (German Edition)
auch er erkennen konnte, was sich hinter der Biegung befand, hielt er ebenfalls jäh an, und Colivar hörte, wie er mit zusammengebissenen Zähnen die Gnade der Götter erflehte.
Einer nach dem anderen folgte den beiden, und Colivar hörte mehrere Männer Gebete flüstern. Er selbst hatte die Nachhut übernommen, um ein wenig mit seinen Gedanken allein sein zu können, und so kam er als Letzter um die Biegung und sah, was sie dahinter erwartete.
Gebeine.
Hunderte von Gebeinen. Tausende. Überall waren Skelette an den Felsen zerschmettert worden, und das Flussbett war mit Splittern übersät. Es sah aus, als hätten Aasfresser die Kadaver in Stücke gerissen, sich um die Reste gebalgt und die besten Stücke weggezerrt, um sie in Ruhe zernagen zu können … was wiederum nahelegte, dass an den Knochen noch Fleisch gewesen sein musste, als sie hier heruntergeworfen wurden.
Die Männer saßen ab, um sich genauer umzusehen. Nur der Seher blieb im Sattel, um von dort aus ein wachsames Auge auf das Gelände zu haben und auf drohende Gefahren zu achten. Colivar sah, dass er zitterte. Das war ein weiterer Unterschied zwischen Zauberern und Hexen. Dass allein der Anblick des Todes einen Magister so tief erschütterte, war eher unwahrscheinlich.
Doch selbst Colivar bekam in dieser unheimlichen Atmosphäre eine Gänsehaut. Wie viele Menschen waren hier ums Leben gekommen? Wie viele Meilen waren die nächsten menschlichen Siedlungen entfernt, von denen sie geholt worden sein mussten? Bestand irgendeine Möglichkeit, dass die Menschen aus eigenem Antrieb hierhergekommen waren, um sich dann in diesem Ausmaß selbst zu zerstören? Oder hatte jemand all die Leichen eingesammelt und hierhergeschafft, um sie dann den wilden Tieren zu überlassen? Colivar war abgebrüht genug, um über die bloße Existenz des Totenackers nicht so entsetzt zu sein wie die Morati, doch die Fragen, die er aufwarf, waren … beunruhigend.
Er ging zu Ramirus, der neben einem besonders wackeligen Steinhaufen mit mehreren vollständigen Skeletten stand, und die beiden betrachteten eine Weile schweigend die Szene.
Die Skelette stammten alle von Kindern. Säuglingen zumeist, denen man die winzigen Köpfe eingeschlagen hatte. Hie und da lagen ein paar größere Schädel, und zwischen den Felsen waren ein oder zwei längere Knochen eingekeilt, die älteren Kindern gehört haben mochten, aber alles in allem konnte es keinen Zweifel geben. Man hatte die Säuglinge wie Abfall auf die Felsen geworfen.
Aber warum?
Colivar zögerte, dann bückte er sich und hob einen der kleineren Knochen auf. Ein winziges Fingerglied, Teil eines vergessenen Fingers. Es war riskant, hier Zauberei einzusetzen, die Königin könnte es wittern, aber die Versuchung war zu groß. Er drehte das Knöchelchen in der Hand hin und her und ließ seine Zauberkräfte einsickern, um seine Geschichte zu ergründen. Verirrt verirrt verirrt verirrt Angst Hunger kalt kalt KALT! … Mama! Mama! Er sah einen Säugling vom Himmel fallen, dann einen zweiten. Tot. Beide waren schon vor dem Sturz tot gewesen. Dies hier war nur eine Müllhalde, nichts sonst. Die Morde selbst hatten anderswo stattgefunden.
Aus einem unerfindlichen Grund empfand er das als tröstlich.
»Hunger«, murmelte Ramirus. Auch er hatte einen Knochen in den Händen, einen langen Oberschenkelknochen, der die Zahnspuren eines hungrigen Tieres trug. »Aus diesen Knochen schreit der Hunger … und die Angst.«
Colivar schloss die Faust um sein Exemplar, um dem nachzugehen. »Diesem Kind wurde Essen angeboten, aber in einer Form, die es nicht verdauen konnte.« Er nahm die Information in sich auf, die Würgekrämpfe des Kindes erschütterten seinen eigenen Körper, und er ließ den Knochen schnell fallen, um die magische Verbindung zu durchtrennen. Die bittere Galle, die ihm in die Kehle gestiegen war, sank wieder zurück. Er hob einen anderen Knochen auf, der von einem älteren Kind stammte. »Das hier konnte nicht essen, weil es zu viel Angst hatte«, bemerkte er.
Von hinten näherten sich knirschende Schritte. Von mehreren Stiefeln. Keiner der Magister drehte sich um.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte Favias’ Stimme.
»Ein Friedhof für Kinder«, antwortete Ramirus leise. »Sie wurden offenbar nach ihrem Tod hier heruntergeworfen.«
»Von wo heruntergeworfen?«
Colivar begriff die Frage nicht sofort. Er schloss kurz die Augen und rief sich die Vision ins Gedächtnis zurück, die ihm der winzige Knochen geliefert
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