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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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Bücher und tönerne Heiligenfiguren, denen der Kopf oder die Gliedmaßen fehlten. In einem Winkel lagen kurze Schwerter, Stöcke, Messer und Nagelkeulen. Von der Decke hingen Stiefel, Sporen und eine Menge Lederriemen; es sah aus wie in der städtischen Waffenkammer.
    Die Blackfrairs Seven, das waren Gregor Gascoigne, Charles Summers, Search, der eigentlich Felix Borden hieß, und er, Andrew, der die verschworene Gruppe vor etwas über einem Jahr zusammengebracht hatte.
    Obgleich sie nur vier Freunde waren, war Andrew für Seven gewesen, weil es besser klang. Der ganze Name war dem Fährsteg zwischen Bridewell und Puddle Warf entlehnt, der die Londoner mit Parry’s Garden am Südufer der Themse verband.
    Charles Summers überragte die drei anderen um Kopfeslänge. Andrew mochte Charles wegen dessen Stärke. Er mochte es, vor ihm zu stehen und zu ihm hochzugucken, ein bisschen wie zu einem Vater. Andrews Vater, Johan Whisper, war klein und hatte ein rotes Gesicht. Andrew schämte sich für ihn, weil er sehr oft betrunken war, obwohl er eigentlich hätte stolz sein können, weil der Vater der beste Schreiber im Londoner Rathaus war – gewesen war! Er konnte wunderschöne Initiale zeichnen, wie die Mönche in den alten Zeiten. Der Bürgermeister, der Lord Mayor persönlich, hatte ihn gelobt und ihm besondere Geschenke zukommen lassen, früher mal. Irgendwann hatte der Vater zu saufen angefangen, war nachts nicht mehr nach Hause gekommen und hatte Schulden gemacht, unter anderem bei Margarets Vater, Sir Thomas Morland. Das Geld hatte er in Windeseile beim Kartenspiel verloren.
    Search war krumm, weil er schlecht sehen konnte und wohl Angst zu stolpern hatte. Es wirkte, als suchte er beständig was am Boden – deshalb der Name. Vermutlich hätte er italienische Augengläser gebrauchen können, wie manche Lehrer sie hatten und unentwegt anspuckten und polierten.
    Obwohl Search nur wenig sah, durchschaute er die meisten Dinge schneller als jeder andere. Andrew wusste das. Wenn es ein Problem gab, stieß er ihn irgendwann an, damit er etwas sagte, und hörte zu. »Sag ich doch!«, meinte Andrew dann beiläufig und tat, als hätte er sich das, was Search erzählte, soeben selber überlegt.
     
     
    A LS A NDREW UND G REGOR Bridewell erreichten, war Search schon da und wartete am Kellereingang mit einem Beutel Brot, zwei Fetzen Ziegenfleisch und etwas Hühnerhaut für Clatter, der alles sofort gierig fraß.
    Der Niedergang zum Schlangenkeller hatte uralte, ausgetretene, bemooste Sandsteinstufen. Der Schacht war schwarz. An den Flanken der Treppe wucherten Efeu, Knöterich und Ackerwinde bis in die Tiefe hinein. Die Jungen mussten die Karre mit dem kranken Hund bis zu dem trockenen Gewölbe tragen.
    Drinnen saßen sie auf selbst zusammengezimmerten Stühlen, auf alten Kisten, es war teils Treibholz vom Ufer der Themse, teils waren es Reste aus den verlassenen Kellergängen. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, dessen Platte eine alte Tür mit rostigen Beschlägen war. Die Beine standen schief und hatten jedes eine eigene Gestalt. Das erste war eine schlanke Tonne, das zweite Bein war ein Stück Lanzenschaft, das dritte bestand aus Ochsenknochen, die von Lederriemen zusammengehalten wurden. Das vierte Tischbein fehlte, weil eine Ecke des Türblatts in einem Spalt der Kellerwand feststeckte.
    Die Stimmung war schwer, seit längerem schon. Früher hatten sie Spaß gehabt, gelacht, allerlei Blödsinn getrieben in ihrem Versteck und nie darüber nachgedacht, ob es gefährlich sei, giftige Pilze zu essen oder Schnaps zu trinken.
    Seit die ersten Schüler tot aufgefunden worden waren, gelang es nicht mal mehr, mit ein paar Witzen über Cliffords Quälereien hinwegzugehen. Die Angst schlich wie ein unsichtbares Tier durch jede Seele, wenn es am Morgen in der Schule hieß, dass wieder der und der gefunden worden sei, tot. Was für ein Wort! Es war wie eine scharfe Klinge. Die Schüler sorgten sich, es gab schon Gruppen, die auf eigene Faust nachforschen wollten, ob es Vorzeichen für diese Krankheit gab. Es musste eine Krankheit sein; niemand konnte sich vorstellen, dass etwa ein Verbrechen der erste Grund sein könnte. Auch die Gerüchte, in denen Martin Luthers Leute eine Rolle spielten, wurden unter Schülern nicht so ernst genommen wie etwa der Verdacht, dass jene Briefe, die man bei den Toten fand, etwas viel Gefährlicheres enthielten, Gedanken vielleicht, die man nicht denken sollte, oder Wissen, Worte, Sätze, die einen

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