Die Seelenpest
rechtzeitig im Haus sein«, sagte die Dame ruhig.
»Heißt das, sie ist nicht da?«
»Das heißt, Morland, dass sie jeden Augenblick mit einem großen Korb Kastanien in den Hof kommt, den zu holen ich sie gebeten habe. Musst du immer misstrauisch sein?«
»Ja«, sagte er trocken und hatte sich schon wieder seinen Papieren zugewandt. Die beschriebenen Bögen füllten den halben Tisch. Schreibfedern, Scheren, Papiermesser, Sanddose und zahllose Notizzettel bildeten ein Schlachtfeld, auf dem niemand Sieger werden konnte, weil keine Ordnung und kein Frontverlauf zu sehen waren. Die Bücher türmten sich zu breiten Mauern.
»Mach mir nur Vorwürfe«, rief er halblaut. »Ich habs ihr selbst gesagt, dass ich ein denkbar schlechter Vater bin, der nie zu Hause ist, nie schlägt und niemals Nein sagt.«
»Das stimmt nicht. Du kokettierst.« Lady Alice lachte. »Den ganzen Tag sagst du Nein. Haben wir Geld für das schadhafte Dach? Nein. Sollen wir nicht ein bisschen mehr Holz und Kohlen kaufen? Nein. Gibt es im Herbst für alle neue Mäntel? Nein. Wenigstens für die Kinder? Nein…«
»Nun übertreib mal nicht!«, unterbrach er sie.
Sie schürzte die Lippen. »Mich mit ihr verschwören! Ich muss es ja, sonst tut es niemand.«
»Du gibst es also zu.«
»Ich habe keine Angst«, sagte sie fest.
Er schoss einen Blick auf sie ab. »Ich habe einen Verdacht, der sie betrifft, die noch ein Kind ist mit ihren fünfzehn.«
»Sechzehn.«
»Ach, komm! Sie trifft heimlich diesen Bengel. Den Sohn dieses Trinkers, Spielers, Lügners, was du willst. Johan Whisper!
Ich kenne diesen Kerl lange und gut genug, um zu wissen, was ich sage. Margaret schleicht sich aus dem Haus und spielt die Erwachsene, sie tanzt uns auf der Nase herum, Frau.« Er ließ sein Federmesser hörbar auf den Tisch fallen und drehte sich erneut um. »Sag was!«, befahl er.
»Nein.«
»Weil du sie deckst.«
»I wo!«
»Ich hätte Lust, sie einzusperren«, rief er. »Sie läuft doch nicht etwa alleine durch die Stadt, oder?«
»Nie«, sagte Lady Alice. Sie lächelte versteckt. Sie konnte fühlen, wie es in ihm brodelte. Jetzt, plötzlich, aus heiterem Himmel kam dem Herrn die Idee, über seine Tochter Verdächtigungen auszuschütten.
»Du bist eifersüchtig«, sagte sie hart. Sie wusste, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte.
Thomas bewegte sich nicht.
Seine Hand, die eben noch gesucht, geblättert und an den Federspitzen herumgekratzt hatte, schwebte mit einem Mal starr über dem Tisch, mitten in der Luft.
»Du verkennst die Gefahr, Alice«, sagte er mit angespannter Stimme. »Dieser Schüler Andrew Whisper ist recht aufgeweckt und neugierig. Er steckt mit anderen zusammen, sie treffen sich, sie lesen, sie geheimniskrämern, essen Pilze, atmen Rauch ein, alles, was du ebenfalls verdammen würdest, wenn es dir zu Ohren käme. Der Rektor Furges hat es mir gesagt. Womit wir wieder bei deinem Lieblingsthema wären: die Atheismuskommission.«
»Ach, die Versammlung hat schon einen Namen!«
»Ich finde auch, dass diese Todesfälle ganz entsetzlich sind«, fuhr Thomas fort. »Wir wissen nicht sehr viel. Es gibt ein paar Briefe, die uns Rätsel aufgeben. Das alles ist sehr unerquicklich.« Er hatte keine Lust mehr, weiterzuerzählen. Es ging sie gar nichts an. Es ging niemand etwas an. Am liebsten wäre er jetzt aufgesprungen und hinausgelaufen, an die frische Luft.
»Umso wichtiger, die Sache aufzuklären«, meinte sie. »Atheismuskommission, was für ein grässliches Wort!«
»Die Jungen schreiben in den Briefen, dass es Gott nicht gebe. Stell dir das bitte vor! Schlimmer noch: dass es ihn nie gegeben habe.« Er schwieg nachdenklich.
Lady Alice hatte mit dem Zusammenlegen aufgehört. Sie blickte reglos aus dem Fenster in den Hof und schien gar nicht mehr zu atmen. Ihr Mund war hart.
»Kein junger Mensch denkt sich so etwas selber aus«, sagte sie leise.
»Genau das ist meine Befürchtung. Dass jemand vordenkt, heimlich Predigten hält oder Briefe schreibt, die solche Sünden zu ihrem Inhalt haben. Deshalb eine Kommission, und deshalb eine geheime Kommission.« Thomas drehte sich kurz zu ihr um. »Geheim, Alice. Kennst du das Wort?«
»Ja«, sagte sie gereizt.
Die Zimmertür wurde plötzlich einen Spalt weit geöffnet und ein vollbärtiges Gesicht lugte herein.
»Störe ich?«
»Kommen Sie rein, William!«, rief Thomas. »Verteidigen Sie mich, Sie sind Anwalt und haben Wortgewalt.«
Die Tür öffnete sich ganz und herein trat ein
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