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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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dem Haus und folgte der Cheap Poultry, bis zur Kirche St. Thomas of Aeon oder gar noch weiter. Dann stellte er sich vor, er hätte sich verirrt, wie damals, ganz traurig und verloren. Bis er es wirklich wieder mit der Angst bekam, sich endlich umdrehte – und ein kleines Stück des Giebels sah.
    Aus der Ferne sah das Old Barge ein bisschen aus wie eine Burg. Es gab einen Turm, eine dicke, umlaufende Mauer, in der sich ein großer Torbogen befand mit einer Flügeltür, die dicker als der Stamm der alten Birke war, die vorne an der Straßenecke stand und im Frühsommer ganze Wolken feiner, honigfarbener Samenblättchen in die offenen Fenster regnen ließ.
    Raspales Dachmansarde war überall schief. Das Kämmerchen lag auf dem höchsten Boden und war nur über eine Leiter zu erreichen, die Raspale, wenn ihn die Kinder oder Mägde ärgerten, nach oben zog. Dann spuckte er hinab und schimpfte laut nach Herzenslust, bis der Hausherr kam oder Lady Alice und die Menge klatschend auseinander trieb.
    Das Beste an der Mansarde war ein winziges Fenster, das sich im Dach befand und von dem aus Raspale »bis nach Oxford« sehen konnte, in Wahrheit immerhin bis Hampstead oder Highgate.
    Die Höhe war verwirrend, und aus dem Fenster sah er, wie die Welt sich streckte, dehnte und im Dunst verschwand. Dann die vielen Dächer, unter denen tausend fremde Menschen lebten, stritten, liebten, logen, starben. Jeden Morgen stand er an seinem kleinen Fenster und redete, sehr leise freilich, zu den Menschen: »Ich, Raspale, Narr des Ritters Morland, blicke auf euch alle herab und weiß viel mehr als ihr dort unten…« Dann spuckte er herzhaft über die steilen Schindeln in die Tiefe und lachte so laut, dass die Mägde in den Gärten ihre Köpfe hoben.
    Er wusste, dass der erhöhte Blick, den er so liebte, lästerlich und wider Gottes Willen war. Denn auf die Welt herab blickte eigentlich nur ER, der diese Welt geschaffen hatte. Der auch im Himmel war und in den Wolken! Dorthin jedoch wünschte Raspale sich am allermeisten. Was er sich nämlich wirklich wünschte, war zu fliegen, fliegen, wie ein Bussard, hoch, mit scharfen Augen, gut bewehrt und schneller als die Engel.
    Und es gab Eingeweihte. Der junge John Clement wusste es, Sir Thomas’ Mündel, knapp dreizehn Jahre alt. John war anders als die anderen im Haus. Er humpelte ein wenig und hatte Schorf, weshalb er oft gehänselt wurde, viel alleine saß und bereits zweimal bei einer königlichen Heilung war, bei der der König seine Hand auflegte, bislang erfolglos.
    John redete mit Tieren, Steinen, Erde, mit Kreide, die zerrieben wurde. Den weißen Brei strich John sich auf den Schorf. Bei vollkommener Windstille hatte Raspale ihm einmal sein Buch gezeigt. Johns Augen hatten einen Glanz bekommen, der bewies, dass er verstand, was ihn, Raspale, umtrieb.
    Das Buch war nämlich nicht zum Lesen da. Es hatte große, weiße Seiten, auf denen Libellenflügel klebten. John Clement hatte gar nicht glauben wollen, was er sah. Es waren Hunderte, so dünn wie Seifenwasserhaut, so leicht wie Luft.
    Raspale fand es gar nicht schwierig, die Libellen mit dem Netz zu fangen. Viel schwieriger war es, das Buch im Hause zu verstecken. Die Mansarde war nicht sicher, keins der Zimmer. Erst im Keller hatte er eine Nische gefunden, die hoffentlich niemand kannte. Das Buch hatte Oktavformat, es war größer als zwei Ziegel. Auf Johns Frage, wie er mit den dünnen Flügelblättern, die man nicht berühren konnte, jemals fliegen wolle, lachte Raspale und erklärte: Wie Blattgold müsse man die Flügel tragen, auf die Haut gestrichen, hingepinselt, bis sie, fast unsichtbar, zur zweiten, eigenen Hülle würden. Er hatte eine Schachtel hervorgeholt, in der ein hübscher Schild aus Federn lag. Der Vogelgeist und der Libellenwille! John hatte ihn verstanden.
    Auch Margaret wusste es… die liebe Margaret! Sie war genauso eingeweiht. Aber Margaret war für Raspale eigentlich kein Mensch, kein richtiger wie jeder andere. Sie war ein Engel! Raspale kannte Margaret, seit Lady Jane, Morlands erste Frau, sie anno fünfzehnhundertfünf geboren hatte, noch im Haus des Richters Sir John Morland, das in der Milk Street stand.
    Margaret war von Anfang an ein sehr besonderes Kind gewesen. Stiller als die jüngeren Geschwister. Sie hatte mit ganz wachen Augen in die Welt gesehen und jedes Mal, wenn Raspale ihr damals den kleinen Finger hingehalten hatte, seine ganze Hand ergriffen. Mit ihm, dem Narren, hatte sie dies Spiel

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