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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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hatte.
     
     
    D ER M IETKUTSCHER D ICKENS und seine Familie lebten in einem schiefen Haus, das an der Flanke eines Wachturms der Stadtmauer festzukleben schien. So jedenfalls wirkte es, wenn man von St. Mary Axe aus darauf zulief.
    Das Haus neigte sich gefährlich vor, als wollte es jeden Moment nach vorne kippen. Es hatte zwei Stockwerke, das obere von einem breiten Erker verziert, in dessen vier schlanken Fenstern teure, blaue Bleiglasscheibchen vor Wind und Kälte schützten, ein bisschen immerhin, denn viele Gläser fehlten und waren irgendwann durch Ölpapier ersetzt worden.
    An der Seite des Hauses, gleich an der Mauer, gab es einen lang gestreckten Garten, in welchem eine verrufene Hundehorde lebte und das Eigentum des Kutschers scharf bewachte.
    Der Gartenzaun war brüchig, und jeder, der vorüberging, bekam ein mulmiges Gefühl. Die Hunde waren überall verschrien, zumal sie ihrem Herrn, dem Kutscher, schon ins – Bein und beide Hände gebissen hatten, während sie mit seinen Hühnern, die frei im Garten liefen, in scheinbar unverbrüchlicher Freundschaft lebten.
    Margaret lief auf die hohe Mauer zu, sie sah das schiefe Haus schon in der Ferne. Die Stadtmauer hatte viele Löcher und war gefleddert worden, wurde es zuweilen noch, weil man das Material in tiefster Nacht zu anderen Baustellen in der Stadt verfrachtete.
    Auch Kutscher Dickens hatte sich vor Jahren hier bedient, um einen Anbau zu errichten, war allerdings auf frischer Tat ertappt und ins Gefängnis geworfen worden. Ein guter Anwalt hatte erreicht, dass Thomas Morlands Kutscher schon nach zwei Wochen wieder freigekommen war. Es habe sich in Wahrheit gar kein echter Diebstahl zugetragen, hatte der Verteidiger erklärt. Zwar seien durchaus Steine von Dickens an einer Stelle der städtischen Mauer entnommen, an einer anderen Stelle derselben Mauer aber, nämlich an ebender, die er bewohnte, wieder aufgemauert worden! Der Name des geschickten Anwalts lautete William Gills.
    Das Kutscherhaus lag noch im morgendlichen Schatten. In ein paar Fenstern brannte Licht. Die Hunde tobten schon. Margaret ging schnell auf die Haustür zu und klopfte.
    Drinnen rief jemand einen Namen, wiederholte ihn, dann wurden Schritte laut. Die Tür quietschte. Im Halblicht sah Margaret eine ältere Frau im Nachthemd, das graue Gesicht wurde von einer fleckigen Schlafkappe umziert. In der Hand hielt sie ein Lämpchen.
    »Ich bin Margaret Morland. Guten Morgen.« Margaret trat etwas näher, damit man sie erkannte. »Ist der Junge da?«
    Die Frau schnaufte und zog die Tür ein Stückchen weiter auf. Sie machte einen Knicks und drehte sich herum.
    »Daniel, mach den Jungen wach! Es ist die junge Miss Morland!« Und leise: »Bitte, wollen Sie nicht…?«
    »Danke. Ich warte hier an der Tür, wenn Sie gestatten. Die Sänfte steht eine Straße weiter…«
    »Daniel!«, schrie die Frau. »Was ist denn nun?« Und wieder halblaut: »Ich bitte um Verzeihung, Miss…«
    »Ich muss ihn nur etwas fragen«, sagte Margaret und bereute es sofort.
    »Natürlich, Miss…« Die Frau verschwand. »Wo ist der Bengel denn? Man wartet!«
    Die Hunde bellten draußen, als griffe man die Hühner an.
    Margaret fühlte, wie sie zitterte, es war die Kälte, die Erwartung, die Angst auch, dass Dick am Ende doch nicht wusste, was Andrew ihr geschrieben hatte.
    Die Frau winkte herüber. »Sofort, Miss, sofort.«
    Der Junge kam barfuß die Treppe herunter, eine dünne Decke über der Schulter. Die Augen waren noch verklebt.
    »Warst du gestern bei uns, Dick?«, fragte Margaret.
    »Ja, Miss.«
    »Und hast du etwas überbracht?«
    Er nickte. Sein Blick entwich ihr.
    Margaret wusste plötzlich nicht mehr weiter. Was sollte sie fragen und wie, ohne dass es furchtbar peinlich wurde?
    Die Frau stand drüben und hörte mit.
    »Da ist ein Missgeschick passiert, Dick«, sagte sie verlegen.
    »Ich habe nichts falsch gemacht, Miss«, sagte der Junge schnell.
    »Natürlich nicht, nein, es war mein Fehler.«
    Dick sah sie verwundert an.
    »Ich habe das Briefchen auch gefunden, so wie du es hingelegt hast…« Margaret bezwang ihre Verlegenheit nur mit aller Mühe.
    Die Frau gaffte.
    »Nur habe ich es leider nicht gleich lesen können«, sagte Margaret. »Die Ziegen haben es gefressen. Es ist mir aus der Hand gefallen, im Stall…«
    Dick gluckste. Er schlug sich die Hand vor den Mund und schielte nach drinnen.
    Die Frau zog die Stirn kraus. »Was gibt’s zu lachen, wenn die junge Lady was von dir will…?«
    »Ist

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