Die Seelenpest
so. Es ist Sonntag, wir sitzen hier beisammen, und ich werde den Eindruck nicht los, als wolltest du jeden Augenblick vom Stuhl aufspringen und das Haus verlassen.«
Sie wartete darauf, dass alle wieder redeten und Thomas an etwas anderes dachte.
»Ich habe schlecht geschlafen, Vater«, sagte sie und blickte ihn kurz an.
»Ich bin dir ja nicht böse«, sagte er ruhig.
Es machte alles nur noch schlimmer. Es wäre besser gewesen, er hätte sie bestraft. Er pflegte Bußarbeiten zu verteilen oder das Verbot, an einem Vergnügen teilzunehmen, an einem Festtag, wenn das ganze Haus wie jetzt beisammen saß und Lieder sang und spielte.
»Hast du Geheimnisse vor mir?«, fragte er.
Sie blickte Hilfe suchend um sich, als ob ein anderer für sie hätte schwören oder bürgen können.
Lady Alice sah sie an, in ihrem Blick lag Mitgefühl und doch auch eine Spur Distanz.
»Ich… nein…«, stotterte Margaret.
»Ich bin so froh und stolz, dass ich dir jederzeit vertrauen kann«, sagte der Vater, als hätte er gewusst, wie grausam jedes seiner Worte war, und als bestünde die Bestrafung darin, es für sie damit umso schmerzlicher zu machen.
Sie schüttelte den Kopf.
»Na, also gut jetzt«, setzte er hinzu und blickte sich überallhin um. »Dies hier ist unser gutes Zimmer, nicht wahr, und kein Gerichtssaal. Wir essen!« Damit griff er nach seiner Gabel und aß Fleisch, trank Bier und schaute eine Weile nicht mehr hoch, sprach auch nicht mehr, weder mit Gills noch mit John, Margarets Bruder, der an seiner Seite saß. Es war verhext. Auch dieses Schweigen quälte Margaret und regte ihr Gewissen auf.
Gills, rechts von ihr, schielte dauernd zu ihr hin.
»Man hat einen Mann verhaftet«, sagte er nach einer Weile, »heute Morgen, schwer betrunken offenbar. Die Sänftenträger redeten davon.«
Margaret war erleichtert, dass er ein anderes Thema hatte.
»Der Mann hat ziemlich randaliert, Predigten gehalten, am Puddle Warf, er war nicht still zu kriegen, sagt man. Er hatte einen Stock und trieb die Leute in die Flucht.« Gills lachte gackernd. »Er schrie, er könne schlagen und töten, kein Gott werde je vom Himmel fahren, um ihn zu strafen oder die Erschlagenen zu retten. Ein wahrer Teufel, wie es scheint.«
Er blickte um sich. Alle hatten zugehört.
»William!«, unterbrach Thomas ihn. »Ich sagte doch, es ist Sonntag und wir essen miteinander.«
Gills schwieg verlegen.
Für einen Moment war Margaret unsicher, ob er jetzt einlenken oder sich widersetzen würde. Es ging etwas Bockiges von ihm aus, er spreizte sich und blickte auf sein Essen. Dann verzog er seltsam das Gesicht.
»Ich dachte, es sei interessant.«
Sofort redeten wieder alle durcheinander, aßen weiter, schoben Schüsseln über den Tisch. Cecily war aufgestanden und sammelte das vom Saft durchtränkte Brot in einen Korb. Margarets Schwester Elizabeth teilte neue harte Brotscheiben aus, auf die das jetzt aufgetragene Hammelfleisch gelegt wurde.
Margaret wich zurück, als Gills sich zu ihr herüberneigte. Er roch nicht gut.
»Der Mann, Miss Margaret, er heißt Whisper, Johan Whisper.«
Margaret fühlte, wie sich in diesem Augenblick ihr Schlund zuzog, als hätte jemand einen Strick um ihren Hals gelegt. Sie wollte schlucken, atmen. Sie hob die Hand, – schielte zu Thomas, der noch nicht aufmerksam geworden war, und fasste sich ans Kinn. Sie merkte, wie sich ihre Augen füllten. Vor ihr auf dem Tisch sah sie das Messer liegen. Hätte sie es in der Hand gehabt, so wäre Gills längst zerschnitten, getötet und seine Augen voller Blut. Aber das Messer lag bloß da und sie war leblos, schwer, ohne Gefühl.
»Margaret, ist Ihnen nicht wohl?«, fragte Gills.
»Du bist ganz weiß«, sagte Thomas, der jetzt herübersah. »Möchtest du nach oben gehen und dich hinlegen?«
»Ja, bitte«, sagte sie und rückte ihren Stuhl ab.
Sie versuchte aufzustehen und fiel zurück. Der Tisch bewegte sich, der Boden wurde weich und ihre Füße flossen teigig auseinander. Sie merkte, dass ihr übel wurde, und hielt sich an der Tischkante fest.
»Darf ich Ihnen helfen, Miss Margaret?« Gills fasste ihren Arm.
»Bitte, berühren Sie mich nicht!«
Er ließ sie sofort los.
Sie stemmte die Hände auf den Tisch. Es gelang ihr endlich, stehen zu bleiben.
Sie schaffte es, ein Stück zu gehen. Im Augenwinkel sah sie noch, dass Thomas aufgestanden war. Sie setzte Schritt vor Schritt. Der Flur war kühl. Im Hof hörte sie die Tiere. Die frische Luft tat wohl. Wut, Angst und
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