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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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Erleichterung mischten sich, sie spuckte in den harten Sand und musste husten. Sie setzte sich auf eine Bank. Die Sonne blendete, sie schloss die Augen. Sie fühlte diese starke Sehnsucht, sie wollte Andrews Hände spüren, ihr Gesicht an seinen Hals legen, sich küssen lassen. Oh doch, auf jedes Risiko!
    Sie ging mit raschen Schritten auf den schmalen Gang zu und fühlte, wie ihr Herz bis in die Schläfen, in die Wangen, ja bis in die Lippen schlug.
    Das Versteck war eine lose Steinplatte, unter der sich ein kleiner Raum befand. Es gab kein Licht. Man musste die Hand in das Loch stecken und tasten. Margaret wollte gar nicht wissen, was dort in Finsternis und Feuchtigkeit verborgen lag, neben Andrews süßen Briefen.
    Mitten in dem Durchgang blieb sie stehen und betete zu Gott. Sie flüsterte. Sie klagte, dass die Liebe wehtat. Dann ging sie weiter, horchte, sah sich um und hob das Schieferstück. Sie dachte an die Asseln, an die Spinnen. Sie biss sich auf die Zunge, dass es blutete. Sie hob die Hand, ging näher heran und lugte in das Loch. Es war nur schwarz, wie immer. Jetzt! Sie tauchte ihre Hand hinein, die Schwärze war wie Teer. Dann sprang die Freude mit heraus. Es war Papier, ein Brief. Sie zog ihn schnell ans Licht…
    »Gib ihn mir bitte, Megge!«
    Thomas’ Stimme traf sie wie eine Ohrfeige. Er stand dicht hinter ihr. Er hielt ihr eine Hand entgegen. Sie streckte ihre Hand vor, er nahm den Brief. Es war, als ob er ihr die Hand vom Arm abrisse.
    »Du weißt, warum, Tochter Margaret.«
    »Ja, Vater«, sagte ihre Stimme.
    »Es gibt Pflichten, Ordnungen, mein Kind, die nicht zerbrochen werden können.«
    Ihr wurde schwindlig, die Schläfen klopften wild. Alles war verschwommen. Drüben, auf dem Hof, stand William Gills, tat jetzt betroffen und triumphierte sicher heimlich.
    »Ja, Vater. Sie haben Recht.« Sie ging an ihm vorbei.
    Gills, als er Margaret kommen sah, flüchtete ins Haus. Der Vater folgte ihr. »Megge!«
    Sie blieb stehen.
    »Du weißt, ich will dein Bestes…« Sie ging ins Haus und gleich nach oben auf ihr Zimmer.

14. K APITEL ,
    worin die Angst das Sagen hat
     
     
     
    Charles Summers hasste es, den Abtritt zu benutzen, den Schmutz, das Körperliche überhaupt. Die Latrine lag außerhalb des Konvikts, an der Flanke einer Scheune, hinter der sich eine riesige Jauchegrube befand.
    Um den Gestank erträglicher zu machen, waren die Wände der Latrine dicht über dem Boden unterbrochen. Vorne hing ein Tuch, das man freilich nicht berühren mochte. Man saß auf einem langen Brett und beugte sich nach vorne, ohne festen Halt, und kämpfte mit dem Gleichgewicht.
    Charles beeilte sich, so gut es ging. Er hoffte jedes Mal, dass er alleine blieb. Das Gestöhne um ihn her war schlimmer als der höllische Gestank, die Witze und das Lachen. Deshalb ging er früher oder später als die anderen oder dachte sich Entschuldigungen aus, um während des Unterrichts zu gehen.
    Jetzt saß er da und kämpfte. Je mehr er presste, umso deutlicher war abzusehen, dass nichts gelingen würde. Am liebsten würde er von hier nicht in die Klasse zurückgehen, sondern ganz fortlaufen, unendlich weit und in die Ewigkeit.
    Er war wütend auf die anderen, auf Andrew ganz besonders, seit er diesen Brief vorgelesen hatte. Charles konnte nachts kaum schlafen. Beim kleinsten ungewöhnlichen Geräusch hörte er den Fremden wiederkehren. Vielleicht war es der Teufel selbst, der sich Clifford als seinen Blutknecht auserkoren hatte.
    Er beugte sich noch weiter vor und presste seinen Unterleib zusammen, als dicht vor seinen Füßen eine Erbse auf den Boden fiel. Er fuhr zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren.
    »Master Summers?«
    Es war der Fremde!
    »Charles, mein Sohn! Sag was, damit ich weiß, dass es dir wohl ergeht.«
    Woher wusste dieser Mann, dass er hinter dem Tuch auf der Latrine saß?
    Der Mann lachte herzlich. »Das arge Fleisch! Dieser ganze Dreck hier, nicht wahr? Man fragt sich, was es soll. Macht es Gott eigentlich Freude, seine Kreatur so zu erniedrigen?«
    »Das weiß ich nicht, Sir«, sagte Charles.
    »Niemand weiß das, Master Summers.« Er kam ein Stück näher, die Stimme wurde lauter. »Als ich in deinem Alter war, Charles, ist mir klar geworden, dass Gott uns so nicht haben will, niemals. Also habe ich viel über Gott nachgedacht. Wie mag er sein, was wird er denken und wie sieht er aus? Darf man sich diese Fragen stellen? Ich sage, ja.«
    Charles hatte sich gezwungen aufzustehen. Es war ein

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