Die Seelenpest
gut, er hat nichts getan«, erklärte Margaret. Und leise: »Ich wollte fragen, ob du vielleicht… Sieh mal, ich habe einen Penny mitgebracht…« Sie holte das Geldstück hervor und hielt es dem Jungen unter die Nase.
Die Frau reckte gleich den Hals. »Was ist das?«
»Nichts, Madame«, sagte Margaret. Sie schloss die Hand sofort und ließ das Geld verschwinden.
»Er gehört dir, wenn du mir sagst… du weißt schon…«
»Ich habe nichts gelesen, Miss. Ich bin immer ehrlich.«
»Ich weiß, Dick, Junge. Trotzdem…«
»Ich lese nie etwas.« Er verzog enttäuscht den Mund und hatte plötzlich schmale Augen.
»Ja, sicher«, sagte Margaret. »Dennoch…«
»Master Whisper hat mir angedroht, mich windelweich zu schlagen, wenn ichs lese.«
»Ach, Unsinn…«, sagte sie und trat ein Stück zurück.
Die Frau drüben an der Treppe war verschwunden.
»Er wartet heute Morgen in der Kathedrale«, flüsterte der Junge.
Margaret bezahlte ihn und dankte. Er schob die Tür zu. Die Hunde waren plötzlich still. Im Osten kroch das erste Morgenlicht herauf. Ihr war, als knisterte die feuchte Luft. Margaret flüchtete benommen. Sie rannte durch St. Mary Axe ein Stück zurück und bog nach Westen ab. Der spitze Holzturm von St. Pauls stand hinter hundert Giebeln himmelhoch.
16. K APITEL ,
worin ein Kuss scheinbar neues Leben macht
Die Kathedrale lag da wie ein schlafender Löwe. Drinnen war es leer. Die erste Messe war vorüber, bis zur nächsten war noch Zeit. Im Eingang fegte ein alter, krummer Mann den Boden. Staub wölkte hoch. Das halbe Licht im Schiff war matt, als hätte Winterkälte die Frühlingsluft gefrieren lassen.
Der alte Mann beachtete Andrew nicht. Unter den Chorbögen kauerten Arme, in Decken und Mäntel eingehüllt. Die meisten schliefen. Andrew ging an ihnen vorbei, er war noch müde. In einer Stunde erst würde der Unterricht beginnen.
Andrew ging zur Lady Chapel, einer Nische unterm westlichen Chor mit mannshohen, hölzernen Wänden. Hier lag im Dunkeln eine kurze, leere Gasse zwischen Stein und Holz, die niemand je betrat.
Er schlüpfte hinein, zog eine kleine Kugel aus der Tasche ‘ und tastete den Fuß der Mauer ab. Es waren vier fingerdicke Bohrungen, die sich hier seit langer Zeit befanden. Sein Vater hatte sie entdeckt und ihm gezeigt, wie man die Kugel in die Löcher legt, nach einer gewissen Zeit wieder herausholt und aus den feinen Linien, die der heilige Staub der Kirche hinterlässt, die Zukunft liest. Die Kugel hatte der Vater selbst aus Lindenholz geschnitzt, poliert und von einem Abt segnen lassen. Es sei ein letztes Mittel, um Gottes Absichten zu erfahren, hatte der Vater an dem Tag erklärt, als Andrew das New Inn zum ersten Mal betreten hatte. Die Kugel sei, wenn sie zum Vorschein komme, das Abbild unserer Erde, mit Ländern, Ozeanen und Gebirgen, wie der neue Globus der Bibliothek in Mansion House, bloß winzig klein.
Was Andrew jetzt wissen wollte, war, von wem der Brief stammte, den er am Vortag im Konvikt auf seinem Bett gefunden hatte. Darin stand, dass seinem Vater Johan Whisper Unrecht widerfahren sei und weiter widerfahren werde. Niemand Geringeres als Sir Thomas Morland habe sich zutiefst versündigt. Er lasse seinen, Andrews, Vater übel schlagen, so lange bis er tot und stumm sein werde. Wobei das Schweigen Johan Whispers den Ritter Morland am allermeisten interessiere.
Andrew drehte sich herum und fuhr erschreckt zusammen. Er duckte sich. Margaret betrat die Kathedrale.
Er kroch tiefer in die Dunkelheit und wusste nicht, ob er sich zu erkennen geben sollte. Er hatte nicht so früh mit ihr gerechnet.
Sie lief vorbei, blickte suchend um sich. Margaret wusste nichts von der Kugel und der Seherei. Wenn sie es wüsste, da war er sicher, würde sie es selber lernen wollen. So war sie eben. Sie würde selber in die Zukunft schauen, sie würde wissen wollen, ob er sie wirklich liebte, ob er sie noch in zwanzig Jahren liebte und ob ihr Vater seine erste Frau, Margarets Mutter, Jane Colt, geliebt hatte… Hundert Mädchenfragen würde sie der Kugel stellen.
Er horchte. Es war plötzlich still geworden. Er lugte vorsichtig umher.
»Da bist du ja! Was tust du hier?«
Er fuhr herum. Margaret stand dicht neben ihm an einem Pfeiler. Er hatte sie nicht kommen sehen und auch nichts gehört.
»Nichts.«
»Na, sag schon!«
»Ich bete.«
»Hier im Dunkeln?«
»Es hat etwas mit den Jungs zu tun. Ich darf es dir nicht sagen.«
»Du schwindelst.«
Andrew sagte
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