Die Seelenpest
schreckliches Gefühl. Er hielt die Hosen in der Hand und band sie endlich zu. Dann trat er durch den Vorhang.
Der fremde Mann stand draußen, keine zehn Schritte mehr entfernt. Wer war er? Er hatte helle Augen, sein Mund war schön, die Haut gesund. Jetzt sah Charles ihn ganz genau. Das lange Haar war leicht gewellt. Er war nicht alt, nicht älter jedenfalls als Andrews Vater, an den er plötzlich denken musste. Den er vor ein paar Tagen aus der Entfernung zufällig vor einer Kneipe hatte stehen sehen, ziemlich betrunken wohl. Charles hatte sich beeilt, dort wegzukommen. Plötzlich tat ihm Andrew Leid, von dem er wusste, wie peinlich es ihm war. Der Fremde trug den gleichen langen Mantel wie Andrews Vater, dessen Kleidung allerdings erheblich abgerissener war.
»Ist es mein Mantel!«, rief der Fremde. »Prachtvoll, nicht wahr? Ein Geschenk des portugiesischen Königs. Jetzt staunst du. Ich komme viel herum. Nenn mir ein Land, und ich sage dir, dass ich schon dort gewesen bin. Eigentlich bin ich Fährmann, aber das ist nur Fassade, dafür habe ich meine Leute. Mein wahrer Titel lautet: Königlicher Brautbeschauer. Unser König Heinrich ist ein starker Mann, der viele Frauen braucht, mehr, als du dir vorstellen kannst. Es ist mein Los, quer durch die Welt zu ziehen und für den König eine passende Königin zu finden.«
Charles wich vor ihm zurück. Er wollte weg von hier.
»Bleib bitte einen Augenblick! Wir können Freunde werden. Denk an die Erbse, so etwas bindet Menschen aneinander.«
Charles schüttelte den Kopf.
»Ach, Master Summers, ich weiß, du zweifelst. Du suchst Gottes Trost und Heilung. Aber Gott kann uns nicht lieben, mit diesem Dreck in uns, von dem wir uns nicht trennen können.« Er wies zu der Latrine. »Das ist das eine, das andere ist der Körper überhaupt, dass wir Hände haben, die den Körper fühlen. Gott gab uns die Seele, der Teufel hat uns unseren Leib gegeben. Gibt es etwas Ekelhafteres als unser Blut? Es klebt und stinkt. Und all die anderen Flüssigkeiten…«
»Ja, Sir«, hauchte Charles.
»Jetzt verstehst du, warum der Leib vergeht, wenn wir tot sind, und unsere Seele ewig lebt. So siegt Gott über den Teufel im Leben eines jeden Menschen. Wir reden noch darüber, Charles, ich denk an dich. Du möchtest weg hier, ich verstehe das. Geh nur! Wir sehen uns wieder. Und behalte unser Treffen für dich. Du weißt schon…« Er ließ ein paar trockene Erbsen von einer in die andere Hand fallen.
Charles ergriff die Flucht. Er hatte nicht einmal die Kraft, sich umzudrehen. Er betete im Laufen und fühlte, dass jedes Wort, das seinen Mund verließ, vor Gott zerschmolz wie frostig kalter Atem. Es war die Seelenpest, die wie Nebel auf den Herzen lag, die durch die Kleider drang und in die Haut fuhr. Man wachte morgens auf und konnte fühlen, wie das Übel draußen durch die Flure schlich. Und es gab keine Hoffnung, sagte man, wenn es sich erst mal in das eigene Fleisch verbissen hatte. Dann war der Tod gewiss.
15. K APITEL ,
in welchem eine Tochter wider ihren Vater handelt
Die Nacht war fast schlaflos vergangen. Margaret hatte zu Gott gesprochen, wie sie es früher als Kind getan hatte, wenn sie sich traurig fühlte. Aber sie war kein Kind mehr!
Als der Morgen graute, schlich Margaret aus dem Haus. Ihr Plan war sehr gefährlich, sie wusste, wie riskant es war.
Nachdem sie leise das Zimmer verlassen, sich nach unten geschlichen und die Tür zum Hof entriegelt hatte, stand Raspale plötzlich bleich im ersten Licht vor ihr wie ein Zerberus im schweren, grauen Mantel.
»Liebes Kind, es ist ein großer Unterschied, ob du den Anstand brichst und ich dir dabei helfe oder ob du deinen Vater hintergehst.«
»Er hat mich hintergangen!«
»Er ist dein Vater, Margaret!«
»Er ist ein sturer, alter Mann!«
Sie ging an ihm vorbei, ohne sich umzudrehen, zog wie ein Räuber die Kapuze ins Gesicht und trat ans Gartentor.
Raspale folgte ihr, schloss auf und fragte sie, ob sie es sich nicht noch einmal überlegen wolle.
Es war schlauer, sich erst gar nicht auf diesen Disput einzulassen. Raspale war geschickt. Ehe man sich’s versah, hatte er einen eingewickelt, das Gewissen schmerzlich freigelegt und angeklagt. Sie kannte das.
Sie drehte sich kurz um und legte einen Finger an seinen rauen Mund. Dann schlüpfte sie durchs Tor nach draußen und machte sich auf den direkten Weg zum Kutscher, um Dick Dickens zu fragen, ob er Andrews Nachricht vielleicht doch heimlich gelesen
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