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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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nichts. Margaret trat ins Licht zurück. »Zu Hause ist der Teufel los. Mein Vater hat deinen Brief gefunden. Ich konnte ihn nicht lesen und bin vorhin zu Dick gelaufen, der mir sagte, wo du bist…«
    »Dein Vater…«, sagte er. Er fasste ihren Arm und zog sie zu sich. Sie fiel in seine Arme. Bewegte sich nicht mehr, sie klebte an ihm wie eine große Puppe. Er fühlte den harten, gewirkten Rand ihrer Haube an seiner Wange, so nah war er ihr nie zuvor gewesen. Sie wehrte sich kein bisschen, das war das Allerschlimmste.
    Er legte seinen Arm um sie und hielt sie fest, als ob sie sich doch wehrte. Und wie denn sonst? Er musste für den Anschein ihrer Keuschheit sorgen. Sie schnaufte, weil er ihr die Luft nahm. Er wollte ihr die Luft nehmen. Sie war nicht keusch! Er sog ihren Duft ein. Sie schlief vielleicht! Die Augen waren fest geschlossen. Sie wollte, dass er sich erregte.
    Er lehnte sich ein Stück zurück, blickte ihr in das Gesicht, sah ihren Mund, der zitterte. Der Mund hielt still. Er wollte ihr nichts Böses tun – und küsste sie. Er küsste! Nie zuvor hatte er geküsst. Tausendmal hatte er sich vorgestellt, geträumt, gerätselt, wie es sei. Ob Mädchenlippen warm, kühl, trocken, rau, fest oder weich sind, und hatte sich danach gesehnt.
    Jetzt küsste er und eine Zeit verging. Er hielt die Luft an, das erschien ihm wichtig, weil er nicht wusste, wie er selber für sie roch. Margaret stand wie tot in seinen Armen und zitterte. Vor Angst oder vor Lust daran?
    Er löste sich, ganz langsam, benommen, bewegte sich zurück, sah ihr Gesicht jetzt wieder scharf und lächelte. Er ließ sie los.
    Die Hände waren schmerzhaft leer. Sie sehnten sich zurück.
    »Dick Dickens hat meinen Brief an dich gelesen?«, sagte er, als wäre es ganz selbstverständlich, das Gespräch dort wieder aufzunehmen, wo der Kuss es unterbrochen hatte.
    »Andrew, jetzt sind wir keine Kinder mehr.«
    Er wusste gar nicht, was sie meinte.
    Er lachte unbeholfen. Ihm schien, als weinte sie. Er tat noch einen Schritt zurück, damit sie beide wieder nur für sich dastanden. Schuldlos sozusagen. Es war laut geworden in dem Kirchenschiff. Schritte, Stimmen, Husten. Ein Hund schnupperte umher, entdeckte sie, blieb einen Moment stehen, als ob er staunte, und verschwand.
    »Wenn uns jemand beobachtet hat, sind wir so gut wie tot«, sagte er düster.
    »Jetzt sind wir einander versprochen«, entgegnete sie. Sie atmete, als hätte sie sich furchtbar angestrengt. »Mit diesem Kuss versprochen. Oder nicht?«
    »Hast du denn Angst?«, fragte er dagegen.
    Sie rückte ihre Haube gerade und berührte ihre Lippen.
    »Ich danke dir, Andrew.« Sie tat einen Schritt zurück. »Ich muss dir etwas sagen… Ich habe zu Hause etwas über deinen Vater gehört. Man hat ihn arretiert. Ich dachte, ich sag es dir besser selbst, bevor du es von anderen erfährst.«
    »Ja, danke.«
    »Schämst du dich für deinen Vater?«
    »Er macht es mir nicht leicht. Wir kennen beide unsere Väter nicht…«
    »Wie meinst du das?«, fragte sie erstaunt.
    »Die Eltern halten sich im Schatten wie Spione, wie Träger von Geheimnissen…«
    »Uns soll das jetzt egal sein«, sagte sie. »Wir wollen uns liehen. Wir wollen nicht lügen und nicht Ränke spinnen.« Damit wandte sie sich um, lief auf das Portal zu, blickte kurz zurück und ging hinaus.
    Er begriff erst jetzt, was eigentlich passiert war. Er hatte Margaret auf den Mund geküsst, in einer Kirche! Es war entsetzlich, aber es war das Schönste, das ihm jemals widerfahren war. Er rannte los. Er wollte ihr noch vieles sagen, sie beruhigen. Ihr sagen, dass er ihrem Vater einen Brief geschrieben habe. Denn glauben, dass ihr starker Vater seinen schwachen Vater töten wolle, war ihm unmöglich. Ihr Vater müsse seinen Vater aus der Haft befreien, aus einem einfachen Prinzip heraus, das darauf fußt, dass jeder auch die Schwächen seines Gegenübers sieht. Es sei dies das Prinzip des Friedens!
    Er blickte auf den Vorplatz. Da sah er, wie Margaret von einem Fremden festgehalten wurde, wie man ihr den Arm nach hinten riss und sie sich wehrte und wie man sie in eine geschlossene Sänfte drängte. Er wollte ihr zu Hilfe eilen, stieß aber gleich mit einem anderen Mann zusammen, der sich in seinen Weg geworfen hatte. Andrew stürzte, schlug auf die Erde. Er schrie und merkte, wie ein Stiefel ihm in seine Lende trat. Ein zweiter Tritt, der ihm die Luft nahm, und ein dritter schließlich, der ihm vor Schmerz die Sinne raubte. Es wurde schwarz vor

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