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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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jetzt dunkel. Der Hund umrundete das Pferd, dann wieder Andrew.
    »Wenn Sie so reden, Sir, sind Sie verdächtig, selbst mit dieser Seelenpest zu tun zu haben.«
    »Wie redest du mit mir?«
    »Haben Sie damit zu tun?«
    Der Lehrer lachte. Andrew ging wie betrunken weiter. Er wusste nicht, wie er sich entscheiden sollte. Er schaute um sich. Nirgends war ein Licht zu sehen, zu dem er hätte fliehen können. Er sah nur die Umrisse des Pferdes weiter vorne, Clifford im Sattel wie ein großer, plumper Riese, mit gekrümmtem Rücken, fast ohne Hals und auf dem Kopf der runde Hut, der aussah wie ein großer, erst halb offener Wiesenpilz. Clatter jagte hechelnd durch die Dunkelheit.
    »Jetzt kann ich’s dir ja sagen: Diese Seelenpest, wie die Leute es nennen, ist die Folge irgendeiner Wette unter Mächtigen. Es gibt nichts, worum sich nicht auch wetten ließe!« Seine Stimme überschlug sich. »Der König ist Person und Staat in einem. Als Mensch ist er schwach, als Staat der Mächtigste. Er zweifelt. Er will wissen, ob junge Menschen auch ohne Gottes Licht das Leben meistern.«
    Andrew hörte zu. Es hallte, als befänden sie sich in einem Kirchenschiff.
    »Ich glaube Ihnen nicht, Sir.«
    »Natürlich nicht!« Clifford wankte auf dem Pferderücken wie ein schwarzer Nachtalb. »Bleib nicht zurück, Junge! Ich bin der Ältere, ich bin dein Lehrer! Natürlich ist das alles unaussprechlich und geschmacklos. Das ist das Schlimme an der Jugend. Immer will sie ändern und zerstören, was uns sicher ist. Müssen wir uns jetzt darüber streiten? Denkst du, ich hätte dir den Zahn geschenkt und mein Sintflut-Geheimnis verraten, wenn ich nicht im Grunde ehrlich wäre?« Er ritt weiter.
    Andrew folgte dem Schatten, dem Schlagen der Hufe. Er sah fast nichts mehr.
    Clatter bellte.
    »Das schönste Geschenk ist immer noch Vertrauen«, rief Clifford. »Schöner als die Liebe.«
    Andrew rannte ein Stück, um nachzukommen. Er stolperte, fing sich, die Regenlöcher waren nur noch schwache Flecken, schwarz wie Blut. Sie kamen unter die breiten Kronen einiger Bäume, das letzte Wolkenlicht verging.
    »Wo sind wir, Sir?«
    »Auf einem guten Weg, mein Junge. Nur noch ein kleines Stück…«
    Andrew sah jetzt nichts mehr. Er horchte und blieb stehen. Er hörte nur den Schritt des Pferdes und dass Clatter in der Nähe war. Ein fremdes, sehr entferntes Hundebellen klang von irgendwo herüber und verwehte. Dann knirschte es am Boden. Der Lehrer war wohl abgestiegen. Irgendetwas schwirrte durch die Luft, einmal, ein zweites Mal. Andrew duckte sich, er wusste nicht, warum. Es schwirrte noch einmal, ganz nah, von links nach rechts. Dann gab es ein Geräusch, als ob etwas zu Boden fiele. Andrew fühlte mit den Händen: Gras, Gestrüpp. Mit einem Schlag begriff er, warf sich zur Seite. Wie dumm er war, wie simpel, wie ein Kind! Jetzt keinen Laut mehr! Die Angst biss zu.
    »Ach, Junge…« Die Stimme klang süßlich, falsch. »Wo steckst du?« Und wieder dieses harte Surren durch die kalte, schwarze Luft.
    Es war ein Schwert!
    Andrew lag flach am Boden. Ihm wurde übel, doch er bezwang sich, jede Bewegung konnte ihm das Leben kosten. Er wollte Clatter rufen, aber er verbot es sich. Es war so still jetzt! Er horchte wieder angestrengt. Die rechte Hand kroch langsam vorwärts, tastete nach Steinen. Einen großen nahm sie und fühlte seine Kanten.
    »Master Whisper, guter Junge! Ich find dich noch…!«
    Andrews Arm und Hand zogen alle Kraft zusammen, die Finger krallten sich um den schweren Stein. Der Arm war fest gespannt, mit aller Wucht geladen. Andrew sprang auf. Der Stein in seiner Hand jagte los wie ein Musketenblei. Und schlug auf etwas! Es klatschte hart, als hätte man mit einem Beil flach auf ein Stück Fleisch geschlagen.
    Clifford stöhnte. Andrew fühlte Nässe, es klebte warm an seiner Hand.
    Er holte wieder aus und traf. Die Hackneystute schnaubte in der Nähe. Er schlug und schlug, bis er mit einem Mal begriff, was er hier tat. Er warf den Stein zur Seite und wühlte mit den Händen durch den Sand, verrieb das Blut. Es war das Blut des Lehrers, der ihn hatte töten wollen. Er stand auf und blieb geduckt. Und horchte wieder. Dann tat er einen Schritt, stieß mit dem linken Fuß an etwas Hartes, fühlte nach, es war das Schwert, dem er so knapp entronnen war. Er rief den Hund, erst geflüstert, dann lauter. Als Clatter nicht kam, setzte er sich und weinte. Er zitterte am ganzen Leib. Er übergab sich seitwärts, spuckte lange aus und heulte

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