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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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wo er trank, und legte sich danach an eine trockene Stelle, streckte die Vorderläufe aus und hechelte zufrieden.
    Der Himmel wurde langsam rot. Andrew wandte sich nach Osten, er folgte Cheapside, bog ab und erreichte über Old Jewry und Coleman Street das breite Moorgate.
    Wohin er blickte, entdeckte er das geheimnisvolle Meer. Es waren Schalen, Muscheln, kleine Tiere, steinern eingebettet im Fundament der Häuser. Es war so unerklärlich! Es war, als hätte Gottes Sintflut ihre Zauberspuren hinterlassen, nachdem die Erde überschwemmt war, ein Meer von Zeichen, die niemand lesen und verstehen konnte.
    Draußen vor der Stadt lag Finsbury im Dämmerlicht. Die Straße war voller Regenlöcher, die Häuser waren schmutzig; alles erschien hier dunkler, rußiger, lärmender als innerhalb der Mauern.
    Andrew beeilte sich. Der Hund lief vor, zurück und wieder vor. Andrew überlegte, ob es ratsam wäre, Clifford um etwas Geld zu bitten, jetzt, wo er etwas Vertrauen zu ihm hatte. Er brauchte dringend Geld, ein paar Shillings genügten, als Überlebensgeld im Newgate, wo der Vater eingekerkert hockte, für Brot, Speck und Bier. Ohne Geld war das Überleben im Newgate oder jedem anderen Gefängnis Londons ausgeschlossen.
    Clifford wartete in Moor Fields. Nicht in einer Sänfte, er saß auf einem Pferd, einer alten Hackneystute, die lahmte und Andrew krank vorkam. Clifford blickte ihn kaum an, schnalzte nur und nickte. Sie gingen die Landstraße nach Nordosten. Andrew hielt vier Schritte Abstand. Die letzten Häuser fielen zurück.
    »Was ist das für ein Köter?«, fragte Clifford. »Woher hast du ihn? Mit Hunden musst du dich vorsehen. Sie sind unberechenbar. Man weiß nie, was sie denken.«
    »Ich weiß es, Sir.«
    »Ach so!«
    »Clatter versteht sehr gut, was ich ihm sage.«
    »Er hat schon einen Namen!«, staunte Clifford und wiederholte ihn. Der Hund blieb stehen und blickte zu ihm hin. »Denk ja nicht, dass ich nicht wüsste, wo du ihn herhast. The Bear Garden«, rief er vorwurfsvoll. »Jeder weiß, dass diese Tiere keine Seelen haben und des Teufels sind.«
    »Nein, Sir.«
    »Das sieht dir ähnlich, mir zu widersprechen. Hast du keine Angst vor mir?«
    »Doch, Sir.«
    »Das will ich hoffen.«
    »Ich habe ihn gerettet.«
    »Satan wird dir dankbar sein.«
    »Es ist nur ein Hund, Sir.«
    »Ja, sicher!« Clifford lachte. Und nach einer kleinen Weile fragte er: »Hast du schon nachgedacht?«
    »Worüber?«
    »Was diese Seelenpest betrifft. Du und deine Freunde, habt ihr es nötig, euch in Dinge einzumischen, die so gefährlich sind? Ich sags dir im Vertrauen, Junge. Ihr habt einen Verräter unter euch.«
    Andrew blieb stehen.
    Das Pferd senkte den Kopf, schüttelte sich und leckte seine großen Lippen.
    »Wir müssen weiter«, sagte Clifford. »Ich kann dir keinen Namen nennen.«
    Weil er keinen weiß, dachte Andrew. Er blufft. Er weiß nichts, rein gar nichts.
    In der Ferne lag ein Waldrand, eine schwarze Wand. Dahinter ragten Mühlenflügel in den Himmel.
    »Wer ist es, Sir?«
    »Ein Mensch«, rief Clifford, »ein menschlicher Mensch mit menschlichen Fehlern.«
    Andrew holte auf. Clatter lief dicht neben ihm, als spürte er, dass alles anders als erwartet war.
    »Gregor Gascoigne?«
    »Wenn du es sowieso weißt…! Der oder Felix Borden, den ihr Search nennt, weil er den krummen Rücken hat. Ich bin nicht sicher, Junge.«
    »Ich glaube Ihnen nicht.«
    Clifford brachte das Pferd zum Stehen.
    »Nein, Sir, wir sind wahre Freunde.« Auch Andrew ging nicht weiter. »Ich gehe zurück.«
    »Und das Geheimnis der Sintflut? The Gully? Dein Versprechen?«
    »Sind leer und nichts.«
    »Das habe ich mir gedacht!«, rief Clifford. »Ich bin enttäuscht, Master Whisper. Ich glaubte, Sie hätten Stärke, einen Willen, nichts Kindliches mehr im Herzen. Ich dachte, er verträgt ein bisschen Wahrheit, ich glaubte, er sei stark und nicht ein armer Jammersack! So täuscht man sich! Das tut mir wirklich weh. Dein Freund Charles erschien mir zäher, als ich ihn quälte. Ich glaube, er hat eingesehen, woraus der gute Lebensweg besteht: aus Überwindung, Master Whisper. Das klingt natürlich fremd in Ihren Ohren…«
    »Sie wollen mich nur mit sich locken.«
    »Ja, selbstverständlich! Was denn sonst? Soll ich dich vielleicht darin bestärken, immer nur mit Misstrauen, mit Angst durch die Welt zu gehen? Redet ein Erzieher so?« Clifford spornte das Pferd. Er sang leise eine Melodie.
    Andrew folgte ihm. Fast hatten sie den Wald erreicht. Es war

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