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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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weiter, ganz laut in diesem Todesdunkel um ihn her.
    Dann suchte er und fand den Hund, der Kopf war halb vom Rumpf getrennt. Der Junge blieb am Boden sitzen, die ganze Nacht, und fühlte weder Zeit noch Kälte.

27. K APITEL ,
    in welchem wir die Welt aus immer anderen Augen sehen
     
     
     
    A LICE , alte Vettel! Wie sie wieder gaffte! Auch Raspale und William Gills und selbst die Kinder jetzt! Klagt mich nur alle an! Am schlimmsten waren Margarets Blicke. Ihnen hielt er, Thomas, am allerwenigsten stand. Niemand sollte ihm was ansehen. Es war harte Arbeit: Immer blicken, als wäre nichts geschehen; reden, als zitterte die Stimme nicht; gehen, als verlöre er nicht dauernd die Balance! Der Appetit war hin, der bloße Anblick von Gemüsesuppen und gekochtem Fleisch war Folter.
    Um es zu verbergen, machte er sich härter, als er war, schrie bei jeder Kleinigkeit, prügelte die Magd, als ihr ein Krug eingelegter Birnen auf den Boden fiel. Dem Kutscher drohte er mit Lohnentzug, weil eins der Pferde lahmte. Nur Gills gegenüber war er süß und glimpflich, erlaubte ihm, zum Turm zu gehen und Margaret abzuholen, befahl indessen auch, sie keinen Lidschlag lang allein zu lassen, am besten an die Hand zu nehmen, auch gegen ihren Willen.
    Gills tats und führte Margaret in das große Zimmer, so feierlich und stolz, als gelte es, vor der versammelten Familie den Vater um die Tochterhand zu bitten. So stand er linkisch da, bis er es selbst begriff und Margaret freigab, sich verneigte und sie mit scheuen Hundeblicken um Verzeihung bat.
    Thomas knurrte, wich Gills aus, drehte sich zurück und schob ihn auf einen Stuhl zu, damit er Platz nahm, damit er endlich saß und nicht länger starr wie ein Pfahl im Weg stand.
     
     
    M ARGARET WAR TOTENBLASS . Sie hatte kaum geschlafen und sich geweigert, das süße Brot zu essen, das ihre Schwester Elizabeth am Morgen zum Turmzimmer hinaufgetragen hatte. Schlechte Träume hatten sie gequält, von einem Wolf mit menschlichem Gesicht und roten Zähnen; von einem Schwert, das durch die Luft fuhr, und Schlangen tief in ihrem Bauch, dort, wo das Kind so klein wie eine Schnecke kroch und quiekte.
    Sie war verwundert, dass der Vater sie nach unten holen ließ, überhaupt, dass man sich alltags im großen Zimmer traf. Sie hatte Herzklopfen, ihr Leib schien mehr zu wissen als sie selbst. Vielleicht war es nur die Müdigkeit, die schweren Augen oder ihre Wut auf William Gills, der ihre Hand genommen und nicht mehr losgelassen hatte.
    Jetzt saß er da, mit rotem Kopf, und blickte immer wieder her. Margaret trug ihm seinen Auftritt vom Vortag nach, die Frechheit seines ungeschickten Antrags oder was es hatte werden sollen.
    »Geht es Ihnen gut, Vater?«, fragte sie behutsam.
    Thomas blinzelte. Das tat er, wenn er unschlüssig und zergrübelt war. Sie kannte ihn.
    »Gut, gut. Und dir?«
    »Mir geht es auch gut.« Sie log vor Gott und allen Heiligen.
    »Das freut mich, Kind.«
    Er faltete die Hände, die sie liebte, die ihr schon als Kind gefallen hatten. Es waren große, breite Hände. Die Finger waren stark, mit dicken Nägeln, kantig, fest und immer säuberlich geschnitten. Und seine Hände rochen gut: nach Tinte oder Zwiebeln oder saurer Milch, nach Erde, Pferdeschweiß und frisch gesägtem Holz, aber alles nur entfernt, so dass die Haut der Hände ihren eigenen Duft behielt.
    Andrew hatte solche Hände. Er fehlte ihr so sehr. Sie ahnte, dass er in Gefahr war. Die Maßnahme, dass Thomas sie gefangen hielt, richtete sich auch gegen Andrew. Er wollte ihn besiegen oder Schlimmeres. Und Andrew würde sich nicht beugen. Aber was nicht nachgibt, bricht entzwei. Sie hatte so viel Angst um ihn.
     
     
    L ADY A LICE WIES DIE M AGD AN , die gute Florentiner Decke auf den großen Tisch zu legen. Trinkgeschirr wurde aufgetragen, geputzt, obwohl heute gar nicht Sonntag war. Sie ließ Morland nicht aus den Augen, sah die schlecht versteckte Ruhelosigkeit, die gehetzten Blicke, den harten Mund. Er hatte etwas vor!
    Seltsam, wie sich alles hier versammelte, dabei hatte niemand dazu aufgerufen. Jeder kam herein, schaute sich um, ging wieder in den Flur und in die Küche, kehrte zurück und trug die Frage im Gesicht, was jetzt passieren würde. Nur Gills saß beherrscht da, verfolgte Morland mit aufmerksamen Blicken und Margaret natürlich, die sich, selbst höchst unsicher, mal an der Tür herumtrieb, mal eins ihrer jüngeren Geschwister am Arm festhielt und etwas fragte.
    Alice streifte Morland an der Schulter,

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